von Sandro Danilo Spadini
Goldener Sonnenschein, linde Vorstadtidylle, Van Morrisons «Brand New Day»: In der ersten Einstellung von Joe und Anthony Russos
«Cherry» werden wir ja regelrecht veräppelt. Denn was sogleich folgt, ist natürlich weder sonnig noch
idyllisch; und brandneu ists grad auch nicht, was die Superheldenfilm-Spezialisten da aus dem semiautobiografischen Bestseller von Nico Walker geschnitzt haben. In einen Prolog, fünf Teile und
einen Epilog haben die beiden Brüder, die mit «Avengers: Endgame» den zweiterfolgreichsten Film aller Zeiten verantworteten, dieses Drogendrama gestückelt, wobei das mehr Spielerei ist als
wirkliche Orientierungshilfe, so wie recht vieles hier mehr Kür denn Pflicht, mehr für die Galerie als zum Wohl der Handlung ist – oder anders: voller Mätzchen, Marotten und Manierismen, von
Farbfilter und Schwarzweiss über Zeitlupe, Porträtmodus, Freeze-Frame bis zu Tableaus und Opernbombast. Das alles passt jedenfalls so gar nicht zum Ort des garstigen Geschehens, zu Cleveland,
Ohio: einer Stadt im amerikanischen Heartland, die schon hässlich und langweilig war, als die heimische Industrie noch nicht in Ruinen lag. Es ist das freilich auch die Stadt, in der die Russos
gross wurden, und entsprechend ortskundig nimmt sich das Herumstreunen des von Spider-Man-Darsteller Tom Holland gespielten titelgebenden Antihelden aus, des Tunichtguts Cherry, der im 2007
angesiedelten Prolog proklamiert: «Ich bin 23 Jahre alt, und ich verstehe immer noch nicht, was die Menschen tun.» Und der uns dann gleich mal zeigt, wie er eine Bank ausraubt. «Ich mache das
schon eine Weile», gibt er lakonisch zu Protokoll und spricht dabei direkt in die Kamera – wieder so ein spleeniges Stilmittel. Warum er das schon eine Weile macht, sucht uns nun Teil 1 zu
erklären, der uns weitere fünf Jahre zurück in die Vergangenheit führt: zu Cherrys Collegezeit, als er seine Emily (Ciara Bravo) kennen und lieben lernt; als das Leben noch vergleichsweise
unschuldig ist, wiewohl er schon damals bisweilen denkt, er sehe alles, was in Zukunft passieren werde, «und es ist ein Albtraum».
Kubrick, Mendes, Scorsese
Dieser Albtraum, da hat Cherry mit seiner Vorahnung absolut recht, nimmt schliesslich in Teil 2 unbarmherzig seinen unaufhaltsamen Lauf, im Basistraining für den Einsatz im Irak, zu dem sich
Cherry überstürzt entschlossen hat, nachdem Emily – vermeintlich! – mit ihm Schluss gemacht hatte. Für diesen Teil nun wechseln die Russos das Bildformat, so wie das derzeit doch recht fancy ist
– man hat das etwa schon bei Steven Soderbergh oder sehr effektiv im Drama «Waves» gesehen. Hier nun ists einfach ein weiterer Schnickschnack, mit dem die Russos angeben wollen, und fällt wie
vieles andere auch in die Kategorie «Kann man, muss man aber nicht machen». Eher nicht machen müssen hätte man dann die an Plagiat grenzenden Reverenzen an das legendäre erste Drittel von Stanley
Kubricks «Full Metal Jacket», aus dem dieser Teil praktisch exklusiv besteht. Die Entmenschlichung, der die jungen Rekruten durch die Drill-Sergeants unterzogen werden, findet anschliessend in
dem wiederum an Sam Mendes’ «Jarhead» gemahnenden Irak-Teil seine Fortsetzung, in dem sich Cherry seine posttraumatische Belastungsstörung einhandelt, die ihn erst aus und alsdann auf die schiefe
Bahn bringen wird: Zurück in Cleveland und in Emilys Armen, geht der Horror erst richtig los. Er schläft nicht, und wenn doch, dann träumt er von Gewalt. Dagegen helfen soll verdammt noch mal
Xanax, soll verflucht noch mal Oxy, soll verreckt noch mal Heroin. Und um das zu bezahlen: diese Banküberfälle halt, die Cherrys Verderben sein werden. Oder seine Errettung, wie uns der endlich
bis in die Gegenwart schielende Epilog erzählen wird.
Der Wille zum Monumentalen
Einen Anlauf zum grossen klassischen Kino nehmen die Russos da also, deren bisherigen Erzeugnissen der vielleicht grösste Meister dieses Metiers einst ebendiese Qualitäten abgesprochen hat:
«Audiovisuelles Entertainment» nannte Martin Scorsese vor nicht allzu langer Zeit dieses ganze Superhelden-Zeug, aber Kino sei das nach seinem Dafürhalten nicht. Die Russos reagierten darauf
durchaus pikiert; und es ist deshalb nicht ganz frei von Ironie, dass ihr neuer, monumentale 142 Minuten langer Film nun in vielem just an Scorsese denken lässt. Im sich entsprechend
aufdrängenden Direktvergleich mit dessen wuchtigeren Werken schaut «Cherry», diese Tollkirsche von einem Film, indes reichlich unreif aus: Nicht nur ist das recht uneben getaktet und verharrt der
Plot am falschen Ort und hetzt dafür an abermals ungünstiger Stelle; auch der Ton ist wenig stimmig: Diese ironische Distanz, wie sie gerade en vogue ist, um die Emotionen im Zaum zu halten und
keine Nähe zuzulassen – die bekommt diesem Film gar nicht, bei dem doch so viel auf dem Spiel steht, all das Drama und all die Tragik: Krieg, Heroin, Herzschmerz, Hoffnungslosigkeit,
Kriminalität. Und besser wird diese in der Comedy-Vergangenheit der Russos («Arrested Development»!) wurzelnde Strategie, die Szenerie mit Witzfiguren und Scherzkeksen zu bevölkern, auch dadurch
nicht, wenn sie zwischenzeitlich fallen gelassen wird zugunsten einer amerikakritischen Anklage, die wenig Relevantes und sicher nichts Brandneues zu sagen hat. Ja, und dann ist da eben noch die
Sache mit diesem ziemlich penetranten Hang zum Extravaganten, diesem leicht geltungssüchtigen Drang zum Epischen. Das kann mitunter ganz schön nerven. Öfter noch allerdings gelingt die ganz
grosse Geste tatsächlich und zaubern die Russos bärenstarke Bilder hervor und kitzeln magische Momente heraus. Denn manches, was zunächst wie Firlefanz wirkt, entpuppt sich am Ende als
ausgefuchster Einfall, als inszenatorischer Coup. Und weil die Dialoge und Monologe wirklich gewitzt sind und Tom Holland nahtlos an seine Galaform im Wahnsinnsthriller «The Devil All the Time»
anknüpft, ist «Cherry» doch noch eine imposante Talentprobe geworden: ein fiebrig faszinierender Trip in die Düsternis der oder zumindest einer amerikanischen Seele, der eine höllisch lange Weile
nachhallt.