von Sandro Danilo Spadini
Eigentlich genügt ein Blick ins Gesicht von Martin (Mads Mikkelsen), um das Wesen dieses wunderbar widerspenstigen Films zu erfassen. In ihm nämlich spiegelt sich doch die ganze bittere Süsse
dieser verrückten Geschichte. Okay, zugegeben, zunächst einmal ists vor allem das Bittere, das sich an den müden Augen dieses Gymnasiallehrers mittleren Alters ablesen lässt: dass die Gattin
(Maria Bonnevie) ihn kaum mehr wiedererkennt und langweilig findet im Vergleich zu seinen jungen Jahren; dass sich seine Söhne null um ihn scheren; dass seine Schüler ihn als zu fordernd und
gleichgültig empfinden; und nicht zuletzt: dass er sich selbst fremd geworden ist. Martin, der einst hätte in die Forschung gehen sollen und das Stipendium dazu schon in der Tasche hatte, ist an
einem toten Punkt in seinem Leben angelangt. Er mache nicht viel und sehe kaum jemanden, räumt er denn auch selbst ein. Und die Frau arbeitet mittlerweile vornehmlich Nachtschichten. Wie das bei
diesen Midlifekrisen so ist, kann sich Martin indes nicht erklären, wie es so weit hat kommen können. Ein doppeltes oder vielmehr dreifaches Glück ist es da, dass er in Nikolaj (Magnus Millang),
Tommy (Thomas Bo Larsen) und Peter (Lars Ranthe) drei Arbeitskollegen hat, die mehr als nur gleichgesinnte und gleich gestimmte Leidensgenossen sind. Echte Freunde sind das, die zwar selbst fast
so desillusioniert und ausgebrannt sind wie Martin, ihm aber dennoch ehrlich den Spiegel vorhalten: Ja, ihm mangle es halt an Freude und Selbstvertrauen, wird ihm bei einem schnieken und überaus
feuchtfröhlichen Abendessen klipp und klar diagnostiziert. Nikolaj freilich ist es, der den Ausweg aus der Tristesse kennt: Unter Berufung auf einen norwegischen Philosophen postuliert er, dass
der Mensch mit zu wenig Alkohol im Blut geboren werde; entsprechend gelte es, sich tagtäglich so weit zu betrinken, dass man konstant einen Pegel von einem halben Promille aufrechterhalte. Man
sei dann entspannter, musikalischer, offener, mutiger. Klingt krass und crazy, aber hey: Hemingway habe auch jeden Tag bis exakt acht Uhr getrunken, und sein Werk sei schliesslich meisterhaft. So
und so ähnlich reden sich die vier die Idee also schön, bevor sie sich ihr Leben im Rahmen eines streng wissenschaftlichen Experiments schönzubechern beginnen. Das kann ja heiter werden – und
wird es auch. Zunächst jedenfalls. Denn bei diesem «Microdosing» wird es ja wohl kaum bleiben. Und wie das beim Saufen eben so ist: Der Kater wird kommen. So viel ist klar.
Wieder jung sein
Es ist dann in der Tat so, dass in
«Drunk»
(aka «Another Round») auch sonst das meiste so kommt, wie man das erwarten durfte. Hochgradig originell ist der diesjährige Ausland-Oscar-Gewinner des Dänen Thomas Vinterberg («Festen», «Jagten»)
gleichwohl – und das nicht nur wegen seiner Grundidee. Erfrischend ist hier auch, dass das unvernünftige Ausscheren dieser ihre Krisen nur noch im Suff ertragenden Männer aus sozialen Normen
nicht als «Cautionary Tale» aufgezogen ist, als Lehrstück mit abschreckender Wirkung; ebenso wenig scheint es Vinterberg auf einen tiefsinnigen Kommentar zur nicht eben unproblematischen
Trinkkultur gerade der jüngeren Generation in seinem Land, geschweige denn auf eine Moralpredigt abgesehen zu haben. Vielmehr lässt er die Dinge einfach geschehen: wertfrei und gelassen, mit viel
Empathie und grosser Sympathie für seine unperfekten Helden und deren Rückforderung des eigentlich der Jugend vorbehaltenen Privilegs, sich irr-, leicht- und schwachsinnig zu benehmen. Und
sowieso hat das eine ordentliche Ladung Humor intus. Manches davon ist purer, formvollendeter Slapstick – das sind dann die süffigen Lacher, weil es nun mal unschlagbar lustig ist, den
beschickerten Missgeschicken braver Jedermänner zuzuschauen. Anderes ist dagegen eher von der süffisanten Sorte – etwa die eingeblendeten Einträge ins wissenschaftliche Journal, mit denen die
vier ihr Experiment gewissenhaft dokumentieren, oder wenn das Schmettern einer patriotischen Schnulze Lehrer- wie Schülerherzen in Wallung bringt und der Torerfolg eines Fussballknirpses
Jubelstürme auslöst. Das Ganze wäre freilich nur halb so amüsant, läge «Drunk» nicht auch eine tief und ehrlich empfundene Menschlichkeit zugrunde. Die Sorgen der Figuren werden denn auch nicht
klein und nichtig gemacht, sondern nur kurzzeitig weggespült. Und zwischendurch versumpft dieser zweistündige Suff eben auch in melancholischen Gefilden, um dann indes bald in einer fliessenden
Bewegung gestärkt daraus emporzusteigen und in herzlicher, bisweilen geradezu zärtlicher Manier zu einer Freudenarie auf die Freundschaft anzusetzen.
Mikkelsen in Weltklasseform
Ob man über so viel kindliche bis kindische Unvernunft nun grinsen oder stutzen mag: Kaum abzusprechen ist dem Film sein Unterhaltungswert. Denn so wie es für unsere vier Helden mit Beginn ihrer
«Studie» keinen faden Moment mehr gibt, so erspart uns auch «Drunk» den ganzen Schlingerweg bis zum genialen Finale jede Langatmigkeit. Das hat natürlich ganz viel mit der Erzählkunst Vinterbergs
und seines langjährigen Co-Drehbuchautors Tobias Lindholm zu tun, aber auch mit einer gewissen technischen Raffinesse, mit einer Kamera etwa, die sich auch mal einen gönnt und mit den Jungs
mittorkelt, wenn sie allmählich die Kontrolle verlieren und sich die angestrebten «optimalen beruflichen und sozialen Leistungen» im Rausch auflösen. Immerzu eine Wucht sind dabei die vier
Hauptdarsteller, wobei sich Larsen, Ranthe und Millang vor allem durch komödiantisches Geschick hervortun, derweil Mikkelsen seinem Starstatus gemäss über die dramatischen Qualitäten eine
Weltklasseleistung abruft. Die Oscar-Ehren hat sich «Drunk» so also absolut verdient. Dies umso mehr, wenn man bedenkt, welch unermessliche Tragik diesem lebensbejahenden, berauschenden Fest
vorangegangen ist: Nur vier Tage vor Drehbeginn verlor Thomas Vinterberg seine 19-jährige Tochter Ida bei einem Autounfall. Sie war fest für die Rolle einer Schülerin eingeplant.