von Sandro Danilo Spadini
«You’re nobody», sagt einer der schweren Jungs in der fünften Staffel von «Better Call Saul» zu unserem Serienhelden: Er sei niemand; keiner werde ihn bemerken – ihn, den wieselig-windigen
Winkeladvokaten, der seit Jahr und Tag von dem ehedem lange fast unbemerkt in den Nischen operierenden Bob Odenkirk verkörpert wird. Und genau das gibt der fast 60-Jährige nun auch hier, in
seiner ersten Hauptrolle als waschechter Kinostar: den Niemand, den titelgebenden
«Nobody». Hutch Mansell heisst dieser vermeintliche Biedermann, dessen gähnend routiniertes Leben uns zu Beginn dieses Rachethrillers
im Schnelldurchlauf präsentiert wird: Haus in den Suburbs, gelangweilte Frau, Job als Buchhalter. Weil Regisseur Ilya Naishuller diese Einführungsmontage so ultraschnell geschnitten hat, hat
Hutch seine Mehrfahrtenkarte für den Bus zwar schon x-fach abgestempelt, als sein Leben eines Nachts nachhaltig auf den Kopf gestellt wird; wir jedoch haben kaum die Popcorntüte geöffnet, als bei
ihm daheim eingebrochen wird: Ein Mann und eine Frau, jung, verzweifelt, nervös, richten die (ungeladene) Waffe erst auf ihn und hernach auf seinen Teenagersohn. Doch dann bietet sich Hutch die
Chance, die Angreifer auszuschalten. Er schleicht sich ran, schwingt den Golfschläger – und bricht dann ab. Die Einbrecher vermag er so zwar trotzdem in die Flucht zu schlagen, doch sein Junge
kriegt sich ob dieser Zaghaftigkeit nicht mehr ein und putzt ihn runter; der herbeigerufene Polizist mustert ihn mitleidig und lässt ein paar gönnerische Worte fallen; und der Blick der Gattin
(Connie Nielsen) ist so abschätzig, dass er ein ganzes Eheleben auslöschen könnte. Was das alles buchstabiert: Schwächling. Versager. Enttäuschung. Und weil dann auch noch der Lederjacken-Nachbar
in seinem 72er Challenger schnödet, der Schwager und der Schwiegervater im Büro höhnen und der eigene Vater (Christopher Lloyd) im Altersheim pöbelt, fühlt sich Hutch nun erst recht nicht
besonders mannhaft – und wir haben jetzt bereits unser erstes Déjà-vu: «American Beauty»!
Hässiger Russe
Es wird dies nicht das letzte Mal sein, dass wir im Zweitling des jungen russischen Regisseurs Ilya Naishuller an andere, bessere Filme erinnert werden. Das zweite Mal folgt vielmehr auf dem
Fuss, als sich die unvermindert loyale kleine Tochter bei Hutch beklagt, die Einbrecher hätten auch ihr Katzen-Armband gestohlen. Nun ist fertig lustig, nun rastet Hutch aus, nun wird unser
Nobody zu einer Killermaschine, und nun denken wir an «John Wick» – was so verwunderlich jetzt auch wieder nicht ist, weil hier mit Derek Kolstad in der Tat derselbe Drehbuchautor am Werk war.
«Ich bin ein guter Mann. Ich bin ein Familienmensch», sagt Hutch noch, ehe er aufbricht in die Nacht und zu etwas, was wie ein (Selbst)zerstörungstrip anmutet und uns wiederum an den
Michael-Douglas-Amoklauf «Falling Down» denken und auch erstmals ein wenig stutzen lässt: Dass da einer wie Hutch in einer solchen Situation mal gehörig auszuckt und die Sau rauslässt, mag noch
durchgehen; mit welcher Handwerkskunst er die jetzt folgende aberwitzig animalische Gewaltorgie anzettelt, ist aber doch suspekt. Dieser Buchhalter aus dem Vorort scheint jedenfalls alles andere
als ein «Nobody» zu sein, und daher machen wir uns auch nicht übermässig Sorgen, nachdem wir rausgekriegt haben, dass einer der pöbelnden Lümmel, die er im Bus zu Invaliden geprügelt hat, der
Bruder eines – aber klar doch – irren russischen Mafioso (gross: Aleksey Serebryakov aus «Leviathan») ist.
Zügig, rassig, bündig
Ja, es hat hier also auch koksende, Wodka trinkende, in ganz üblen Zwirn gewandete Russen – ohne scheint es heutzutage in diesem Genre nicht mehr zu gehen (hier bitte Déjà-vu nach Wahl einfügen).
Was es auch gibt in «Nobody»: Explosionen im Hintergrund, denen der in Zeitlupe breitbeinig seines Weges schreitende Held keine Beachtung schenkt (siehe z.B. «The Dark Knight»); allerlei Bastelei
zum Zwecke der kreativen Eliminierung gesichtsloser Schufte (siehe z.B. «The Equalizer»); im Scheinwerferlicht Schnulzen schmetternde Psychopathen (siehe z.B. «Blue Velvet»); augenzwinkernd
choreografiertes überdimensioniertes Endlos-Geballer (siehe z.B. «Shoot ’Em Up»); Ungeziefervernichtung à gogo aus der Ego-Shooter-Perspektive (siehe Naishullers Debüt «Hardcore Henry»). Und
obendrein fand es unser Siebensiech von einem Jungregisseur noch extrem neckisch, seine Gewaltexzesse ironisch konterkarierend mit lieblicher Musik zu unterlegen – nicht einmal, nicht
zweimal, nicht dreimal, nicht... Jedenfalls: nicht der quirligste Geistesblitz. «Nobody» ist also – das darf man nun definitiv so sagen – nicht gerade der letzte Schrei, allerdings – und das sei
jetzt ebenfalls noch deutlich betont – auch nicht wirklich der letzte Scheiss. Unter dem Strich hat diese laute, lässliche, launige Lappalie sogar einiges, was für einen pfleglichen Umgang mit
ihr spricht: Kolstads Skript mag zwar wie eine halbwegs handlungsfreie Zitatensammlung daherkommen, ist aber gleichwohl bisweilen recht unorthodox und gespickt mit klobigen Kuriositäten, wobei
auch der Schmäh nicht zu kurz kommt; technisch findet Naishuller jederzeit den richtigen Kniff, und Takt, Tempo und Timing hat er eh voll im Griff; und wiewohl schon ein bisschen der Eindruck
entsteht, der Film halte sich für cleverer, als er ist, so nimmt er sich immerhin nicht ernst. Sein Trumpf ist freilich Bob Odenkirk, der hier quasi den Liam Neeson macht und trotz seiner
beiläufigen Art als Neo-Actionstar heftig einfährt. Etwas in Form bringen musste er sich für diesen Überraschungsauftritt aber schon, wobei seine Erfahrung als Einbruchsopfer mitsamt Zweifeln an
seinem zwar korrekten, aber halt nicht heldenhaften damaligen Verhalten dabei wohl die tieferen Spuren hinterlassen hat. So tief, dass man sich am Ende schert, wie es mit ihm und den Seinen
ausgehen möge, sind diese indes nicht. «Was ist das?», fragt Hutchs Frau einmal. Würde uns irgendwie auch noch wundernehmen. «Es ist... was es ist», meint unser Held aber nur, und mit ihm zucken
dann auch wir mit den Schultern. Viel Zeit, darüber nachzudenken, bleibt uns in diesem zügigen, bündigen, rassigen Narrenspass sowieso nicht: 90 Minuten, und Schluss ist. Und das ist am Ende
vielleicht mit das Beste an «Nobody»: Es ist schnell vorbei – und schnell vergessen.