von Sandro Danilo Spadini
Man sagt gerne, im Kino bestehe die Kunst darin, nicht alles erschöpfend auszuformulieren, sondern ein bisschen was der Vorstellungskraft des Publikums zu überlassen. Wenn das stimmt, dann ist
«The Guilty» grosse Kunst. Denn in diesem
Thriller muss man sich nicht nur das kriminelle Geschehen selbst ausmalen, das unser Held von fern zu beeinflussen trachtet. Auch dessen Hintergrundgeschichte, die hier offenkundig eine
gewichtige Rolle spielt, wird kaum ausbuchstabiert und muss weitgehend von uns zusammengereimt werden. Was wir wissen, ist das: Joe (Jake Gyllenhaal) ist eigentlich Streifenpolizist beim Los
Angeles Police Department, wurde aufgrund einer (noch) nicht näher ausgeführten Verfehlung nun aber in die Notrufzentralle versetzt, wo er als «Operator 625» Leuten in Not beistehen soll –
Drogenabhängigen, die sich eine Überdosis verabreicht haben, Geschäftsmännern, die von einer Prostituierten ausgeraubt wurden, Fahrradfahrern, die sich im Suff wehgetan haben. Und was wir sehen,
ist das: einen verzagten Mann um die 40 mit einer kurzen Zündschnur, der sich auf seinen doch so wichtigen Job konzentrieren sollte, mit seinen Gedanken aber mehr bei dem am nächsten Morgen
beginnenden, wohl nicht nur seine berufliche Zukunft entscheidenden Prozess ist. Dabei ist Joe jetzt doch erst recht maximal gefordert: Inmitten verheerender Waldbrände, die einen Grossteil der
Einsatzkräfte absorbieren, erhält er einen 911-Anruf einer Frau, die angibt, entführt worden zu sein. Joe hat nun sein eigenes Feuer, das er löschen muss. Er nimmt in der Folge Kontakt mit der
kleinen Tochter der Anruferin auf, die mit ihrem Babybruder allein daheim sitzt und nicht weiss, wo ihr Mami und ihr Papi sind. Von der Grossraumzentrale aus versucht Joe eine Rettungsaktion zu
orchestrieren, verspricht dem Kind, er und seine Kollegen seien dazu da, Menschen zu beschützen, die Hilfe brauchten, bekommt aber gleichzeitig von seinem ehemaligen Captain zu hören, was zur
Hölle er denn da veranstalte, er sei doch schon in genug Schwierigkeiten. Doch Joe kennt jetzt kein Halten mehr und ignoriert einmal mehr sämtliche Dienstvorschriften: Er möchte diese Situation
retten, er möchte helfen und vor allem: Er möchte sich rehabilitieren.
Ein Star, eine Location
Einverstanden: Grosse Kunst ist «The Guilty» natürlich nicht wirklich. Und überhaupt: Recht eigentlich wissen wir sowieso ein bisschen mehr über die praktisch in Echtzeit ablaufenden Vorkommnisse
in diesem auf fiese Art cleveren Thriller von nicht einmal 90 Minuten Laufzeit. Faktisch wissen wir sogar alles darüber, weil wir das doch vor rund drei Jahren schon einmal gesehen haben, und
zwar in dem dänischen Überraschungserfolg gleichen Titels von Gustav Möller. Für den internationalen Markt neu aufbereitet und poliert wurde «The Guilty» nun von Actionspezialist Antoine Fuqua,
der eben erst mit dem Science-Fiction-Thriller «Infinite» an den Start gegangen und grausig auf die Nase gefallen ist. Geholfen hat ihm dabei der hoch renommierte (Drehbuch-)Autor Nic Pizzolatto,
mit dem er bereits bei «The Magnificent Seven» und mithin einem anderen Remake zusammengearbeitet hat. Angesichts all der grossen Kisten, die Fuqua in den letzten zwei Jahrzehnten auf die
Beine gestellt hat, ist diese mit nur einer Location und einem (sichtbaren) Star auskommende Produktion nun kaum mehr als eine Fingerübung; aber es ist auch eine attraktive Ausgangslage, zumal
sich Fuqua immer dann in speziell guter Form präsentiert hat, wenn Cops im Spiel waren: namentlich im Denzel-Washington-Vehikel «Training Day» und im Beinahe-Meisterwerk «Brooklyn’s Finest». Und
dass ein dauertelefonierender Typ als Alleinunterhalter so gut funktioniert wie ein aus einer 911-Zentrale gesteuerter Plot, haben nebst dem Original ja auch schon Thriller wie «Locke», «Phone
Booth» oder «The Call» gezeigt. Kann also nicht viel schiefgehen, oder?
Bildschirmfüllende Präsenz
Nein, tut es nicht. Denn zum einen haben Fuqua und Pizzolatto kaum am bewährten Plot herumgeschraubt, der das wenige, was wir zu wissen glauben, und das, was wir uns vor unserem geistigen Auge
vorgestellt haben, immer wieder aufs Neue auf den Kopf stellt. Und zum anderen kitzelt Fuqua wie schon im Boxerfilm «Southpaw» eine absolute Topleistung aus Jake Gyllenhaal heraus. Während der
fiebrigen Telefoniererei mit Stars wie Riley Keough, Ethan Hawke, Paul Dano und seinem Schwager Peter Sarsgaard ist der längst zum 100 Prozent sicheren Wert avancierte 40-Jährige praktisch
permanent solo in Grossaufnahme zu sehen; ebenso leinwand- respektive bildschirmfüllend (das ist ja eine Netflix-Produktion) ist freilich seine mimische Präsenz. Dieser Büroglaskäfig, in dem er
sitzt und spricht, flucht und fuchtelt, ist aber halt auch ein herrlicher Schaukasten, um seine Talente darzubieten. Und in diesem abgedunkelten Raum, in den er sich alsdann zurückzieht, erinnert
er fast an einen Priester im Beichtstuhl, was nicht nur deshalb ganz gut passt, weil ihm in der Tat bisweilen wildfremde Menschen ihre Geheimnisse anvertrauen, sondern auch, weil es hier doch
wohl um Schuld geht, kolossale Schuld sogar. Mit Joe als Sünder, der seiner Strafe harrt. Einem Verlorenen, der sich seiner Verfehlungen bewusst ist oder bewusst wird und unter deren Last bald
zusammenkracht. Doch bevor das passiert, bevor er kollabiert und kapituliert, will er noch Abbitte leisten. Will er dieses Leben retten. Er hat es schliesslich versprochen.