von Sandro Danilo Spadini
«Mach dir keine Sorgen!», sagt Mohamedou (Tahar Rahim) zum Abschied noch. Aber der Blick der Mutter verrät, dass diese beschwichtigenden Worte an ihr abgeprallt sind. Denn selbstverständlich
macht sie sich Sorgen, grosse Sorgen, und das zu Recht. Schliesslich ist es November 2001, zwei Monate nach den Terroranschlägen von New York und Washington, und ihr Sohn wird gerade von der
mauretanischen Polizei abgeholt, weil die Amerikaner mit ihm reden wollen. Weil sie, die im Moment gerade «verrücktspielen» und unter der Führung der Regierung Bush nach «roher Gerechtigkeit»
lechzen, mit ihm darüber sprechen wollen, warum er von Osama bin Ladens Satellitentelefon aus angerufen worden ist. Was er in Deutschland gemacht hat. Ob er sich dort mit Marwan al-Shehhi
getroffen hat, jenem Mann, der in den Südturm des World Trade Center geflogen ist. Ob er ihn nicht so gar rekrutiert hat in Hamburg. Und all das werden die Amerikaner ihn dann auch fragen, über
drei Jahre lang, immer und immer wieder und so lange, bis er nach Schlägen, Schlafentzug, erzwungenem Geschlechtsverkehr und Waterboarding endlich ein unglaubwürdiges Geständnis ablegt. Und sie
werden ihn dort drüben, auf Gitmo, auf Guantánamo Bay, auf dieser längst berüchtigt gewordenen kubanischen Insel, so lange in ihrem Internierungslager ohne Anklageerhebung fest- und von der
Aussenwelt fernhalten, bis der Supreme Court verfügt, die Regierung müsse nun Beweise vorlegen. Und bis die toughe Staranwältin Nancy Hollander (Jodie Foster), die «schon seit dem Vietnam-Krieg
gegen die Regierung ankämpft», sich im Februar 2005 seines Falls annimmt, um den einstigen Mujahed vor der Todesstrafe zu bewahren.
Pingelig und stachelig
«Das ist eine wahre Geschichte», wird zu Beginn von
«The Mauritanian» unmissverständlich und in Abgrenzung zum unverbindlicheren «basierend auf» oder zum noch schwammigeren
«inspiriert von» deklariert. Niedergeschrieben hat sie Mohamedou Ould Slahi in seinem 2015 erschienenen Buch «Guantánamo Diary»; fürs Kino adaptiert hat sie ein unerfahrenes Autorenteam um den
Produzenten und Journalisten Michael Bronner («United 91»); verfilmt hat sie der Schotte Kevin Macdonald und mithin ein Mann, der vom Dokumentarfilm her kommt und sich alsdann mit Werken wie «The
Last King of Scotland», «State of Play» oder Stephen Kings JFK-Saga «11.22.63» immer wieder dem Politisch-Historischen zugewandt hat. Und all diese Aspekte der Urheberschaft, sie lassen sich
– im Guten wie im weniger Guten – deutlich am fertigen Werk ablesen: die autobiografische Unmittelbarkeit der Schilderung, die Anfängerfehler im Skript, die Pedanterie und Widerborstigkeit in der
Inszenierung des den Tatsachen verpflichteten Chronisten. Sprich: Die Leidensgeschichte von Mohamedou hallt zwar nach, doch dem unfokussierten, repetitiven, von faden Dialogen durchzogenen
Drehbuch hätte eine zusätzliche Redigierrunde und dem zu langen, wacklig zwischen den Figuren, Schauplätzen und Zeitebenen hin- und herswitchenden Film eine Extraschicht im Schneideraum gutgetan.
Kein Wunder, kommt «The Mauritanian» nur schwer in die Gänge; und wiewohl er in der zweiten Hälfte dann doch halbwegs Fahrt aufnimmt, hört das Ruckeln nie auf. Denn wie fast allen
Macdonald-Filmen mangelt es auch diesem hier an rhythmischer Geschmeidigkeit, was wiederum wesentlich zu tun hat mit diesem Pingeligen, diesem Stacheligen, das den (Spiel)-Filmen des Schotten
ebenfalls eigen ist und das zwar das Gewissen des um Akkuratesse und Realismus besorgten Dokufilmers beruhigen mag, aber öfters mehr wie ein Dienst an sich selbst als am Publikum wirkt. Freilich
geht es hier nicht primär darum, uns einen flotten Abend zu bereiten, sondern um die Aufarbeitung der politischen und juristischen Entgleisungen im Nachgang zu 9/11, quasi darum, Licht in die
Dunkelkammer des Rechtsstaats zu bringen. Als Schotte ist Macdonald da gut geeignet, dies unzimperlich anzupacken, und in der Position, Standpunkte einzunehmen, die in den USA unpopulär sein
mögen. Und es ist sein gutes Recht, eine klare Grenze zu ziehen, inwieweit er bereit ist, Kompromisse einzugehen beim Spagat zwischen Statement und Entertainment.
Aussergewöhnliches vom Ausnahmetalent
Dafür aber macht es sich Macdonald in seinem von manipulativen Momenten nicht freien, dafür mit dosiertem Pathos vorgetragenen Plädoyer für die Rechtsstaatlichkeit recht einfach. Obzwar
zweifellos im Recht, blendet er in seinem grimmigen Klammern an unverhandelbare Prinzipien und seiner moralischen Entrüstung die spannenderen, ungelösten Fragen aus und verweigert den Schritt in
die Grauzone. Da ist «The Mauritanian» dann dort angelangt, wo noch während der Bush-Ära Filme wie «Rendition» oder «Lions for Lambs» in heiligem Furor und bisweilen selbstgefälliger
Selbstzerfleischung gewütet und mit der Moralkeule alles kurz und klein argumentiert haben – wobei das Sich-selbst-auf-die-Schulter-Klopfen und die Selbstvergewisserung, auf der ethisch korrekten
Seite zu stehen, hier noch ein wenig ausgeprägter sind. Glücklicherweise hat Macdonalds Film mit seinen thematischen Vorgängern noch etwas anderes gemein: ein überragendes Ensemble. Da ist Jodie
Foster, die hierfür den Golden Globe und damit den ersten wichtigen Preis seit fast 30 Jahren und Clarice Starling gewonnen hat: Wie weiland in Spike Lees «Inside Man», wo sie noch für den Neffen
von bin Laden eine Bleibe in New York gesucht hat, zieht sie hier im Hosenanzug eine coole Show ab. Als ihre junge Assistentin weiss Shailene Woodley wie stets zu gefallen, wiewohl sie hier ein
ziemliches Doofi spielen muss. Und dann ist da auch noch ein abermals grandioser Benedict Cumberbatch als gottesfürchtiger Chefankläger der Marine, den sie zwar als «dog on a chain» bezeichnen,
der aber ob aller Trauer und Wut noch immer weiss, was recht ist und was nicht (und der beim gemeinsamen Bier im Café des Souvenirshops von Guantánamo einen kleinen De Niro/Pacino-Moment mit
Foster hat). Am Ende aber hängt das Wohl und Weh dieses Films am französischen Ausnahmetalent Tahar Rahim, bekannt aus Jacques Audiards «Un prophète», Asghar Farhadis «Le passé» oder der
9/11-Serie «The Looming Tower». Er gibt diesen vermeintlichen «Al-Qaida-Forrest-Gump» höchst charmant und braucht bei seinem ersten Treffen mit den Anwältinnen nur Sekunden, um zumal Woodleys
Figur gehörig zu bezirzen. Vor allem aber verleiht er Mohamedou eine geradezu stoische Wärme: Sein Martyrium erträgt er die längste Zeit mit einer gewissen Gelassenheit, einer Prise Humor sogar,
mit einem stets freundlichen Lächeln auf den Lippen, die Hände zum Gebet gefaltet und bis zum bitteren Ende zur Versöhnung ausgestreckt. Und das ist es, was von «The Mauritanian» bleibt: die
menschliche Grösse, die unerschütterliche Bereitschaft zur Versöhnung – und wie fulminant dieser Tahar Rahim das verströmt.