Die Frau, die Marilyn Monroe war

Andrew Dominiks epische Marilyn-Monroe-Collage «Blonde» ist heldenhaftes Kino: eine poetische Halluzination, die provoziert, strapaziert und die Erwartungen pulverisiert. Und bei alledem: ein Kunstwerk.

Ana de Armas im Film Blonde

Netflix

von Sandro Danilo Spadini

Es kann sicher nicht schaden, ein ganz klein bisschen verrückt zu sein, wenn man sich einer solchen Herkulesaufgabe annimmt: sich der Leinwandgöttin schlechthin filmisch zu nähern. Oder genauer: «eine fiktionalisierte Chronik des inneren Lebens von Marilyn Monroe» zu realisieren, wie dieses Projekt von offizieller Seite her umschrieben wird. Der bald 55-jährige neuseeländisch-australische Regisseur Andrew Dominik («Killing Them Softly») scheint diese Anforderung jedenfalls locker zu erfüllen. Nicht nur hatte er schon wie ein Besessener rund zehn Jahre an «Blonde» rumstudiert und rumgedoktert, ehe im August 2019 dank Netflix-Geld dann endlich der Drehstart erfolgen konnte. Auch seine Äusserungen ein paar Monate vor der Premiere am Filmfestival von Venedig klangen doch einigermassen erratisch: Als ob «Citizen Kane» und «Raging Bull» ein Töchterchen gehabt hätten – so schaue sein Film aus, der im Übrigen folgerichtig zu den zehn besten der Kinogeschichte zähle. Über die Länge der da gerade aktuellen Schnittfassung wollte sich Dominik hingegen nicht auslassen: Das sei, als ob man eine Frau nach ihrem Alter frage. Nun: Es sind am Ende 167 Minuten geworden. Und für die Allzeit-Top-Ten hat es zwar nicht ganz gereicht, aber der bislang spannendste Film dieses Jahres ist «Blonde» allemal und überdies der erste, der bei Netflix das Killer-Rating NC-17 erhalten hat: nur für Erwachsene. Und das ist doch auch wieder mal ganz schön.

Eine ureigene Handschrift

Ewig hatte sich das sonst so Biopic-affine Hollywood nicht an die Grössten der Grossen herangetraut: an Elvis und Marilyn. Und nun sind binnen kürzester Zeit Filme über gleich beide erschienen. Bezeichnenderweise war es freilich jeweils kein Einheimischer, sondern mit Baz Luhrmann und eben Dominik ein Mann vom Fünften Kontinent, der es wagte, diese amerikanischen Über-Ikonen ins cineastische Visier zu nehmen. Ende der Achtzigerjahre hatte derweil noch David Lynch an einem Skript für ein Monroe-Projekt namens «Goddess» getüftelt (von dem einiges später in «Twin Peaks» und «Mulholland Drive» einfloss, deren tragische Heldinnen merklich nach Monroe modelliert waren). Wie so ein Film ausgeschaut hätte, kann man sich nur zusammenträumen; doch die Vision, die Dominik nun präsentiert, dürfte grob in diese Richtung gehen. Unverzüglich wird hier nämlich deutlich, dass der Brad-Pitt-Intimus in seinem ersten Spielfilm seit zehn Jahren und seinem überhaupt erst vierten in seiner mehr als 20-jährigen Karriere volles Risiko geht: dass er provozieren, strapazieren, die Erwartungen pulverisieren möchte, wenn er schon so ein Himmelfahrtskommando annimmt. Manches, was er da macht, erinnert an die alten Franzosen, anderes an die New-Hollywood-Rebellen. Aber am Ende ist das eine ureigene Handschrift, mit nichts zu vergleichen und auch innerhalb seines schlanken Œuvres, das vom meditativen Western «The Assassination of Jesse James by the Coward Robert Ford» angeführt wird, ziemlich singulär. Es ist mehr eine Collage denn eine geradlinige Biografie, die Dominik auf Basis des gleichnamigen Buchs von Joyce Carol Oates gefertigt hat; mehr Stimmungsbild denn faktenhörige Historiografie, wiewohl sie alle da sind, die prominenten Protagonisten, die Monroes Weg gekreuzt haben: Joe DiMaggio, Arthur Miller, Billy Wilder, Charles Chaplin Jr., John F. Kennedy. Doch sind sie nur Dekoration, die meisten werden nicht mal mit Namen genannt, denn nichts, rein gar nichts soll ablenken von der Frau, die Marilyn Monroe war: die Frau hinter dem Produkt Marilyn, dem Konstrukt Monroe, der Sexbombe, dem Superstar, der Leinwandgöttin, über die Norma Jeane Mortenson, wie sie ja bürgerlich hiess, meist in der dritten Person sprach.

Ein wilder, unsteter Ritt

Deren Pfad zum Ruhm war ein brutal steiniger. An ihrem siebten Geburtstag, im Jahr 1933, in dem der Film startet, wird sie, während in den Hollywood Hills die Flammen wüten, gleich doppelt traumatisiert: indem sie von der psychisch kranken Mutter ein Bild eines Mannes gezeigt bekommt, der ihr Vater sei – und indem diese versucht, sie in der Badewanne zu ertränken. Norma Jeane kommt sodann ins Heim, aber damit hält sich Dominik nicht weiter auf. Stattdessen ein harter Schnitt, ein grosser Sprung: Norma Jeane ist nun Marilyn Monroe, ein Pin-up-Girl, das sich aufmacht gen Hollywood, wo sie in die Pfoten eines übergriffigen Produzenten gerät, ein mies laufendes Vorsprechen hat, aber trotzdem ihre erste Filmrolle landet. Doch lange verweilt «Blonde» auch in dieser Phase nicht, die eine Abfolge ist von Dramas, Traumas und Demütigungen, der Dominik eine adäquate Sprache angedeihen lässt mit dem launigen Wechsel von Farbe zu Schwarzweiss und zurück, überbelichteten Bildern, kristallklaren Schnappschüssen, verschwommenen Shots, extremen Close-ups, Aufnahmen von ausgesuchter Schönheit, Einstellungen von ausgemachter Grausamkeit, einem sich verengenden und dann wieder weitenden Bildformat, das kaum je die volle verfügbare Breite in Anspruch nimmt. Ein wilder Ritt ist das, kurz hier, kürzer dort, mit Leinwandgemälden im Minutentakt; man kommt aus dem Staunen gar nicht mehr raus. Und dabei wird es auch bleiben in diesem unordentlichen, unperfekten Film, irr und wirr, halluzinierend und delirierend, träumerisch und malerisch, trippend und flippend. Dominik macht hier, was er verdammt noch mal will. So wie es das Privileg des Künstlers sein sollte. Das ist herausfordernd, gar keine Frage. Und waghalsig. Und heldenhaft. Und auf jeden Fall: Kunst. So viel Poesie. So viel Magie. Und es sind nicht nur alle da, es ist auch alles drin in diesen eklektischen drei Stunden: all die ikonischen Momente und Looks. Nur eben anders. Unerwartet. Dabei aber keineswegs unfokussiert. Ganz im Gegenteil. Dominik hat hier nur einen Fokus, nur eine im Fokus und stellt hie und da sogar den Hintergrundton ab, sodass man nur noch ihr Atmen hört, ihr Hauchen. Und auch wenn sein Film bisweilen entrückt wirkt, so ist er doch nie distanziert, sondern immer ganz nah dran an seiner Heldin, auf ihr drauf sozusagen, im tiefsten Inneren drin in dieser zerrissenen Frau, die stets glaubt, nicht zu genügen, und die auch von anderen unterschätzt wird. Die zeit ihres Lebens dem Geist dieses mystisch überhöhten absenten Vaters hinterherjagt und nie selbst Mutter werden kann. Die immer wieder sagt, sie sei okay, auch wenn das offenkundig nicht der Fall ist. Die meint, sie sei doch nur irgendeine Blondine, wobei die Haare ja nicht mal echt sind. Die verlassen, verkauft, verraten, verhöhnt, verheizt, verschachert, verstört, verprügelt, vergiftet, vergewaltigt, verschlissen wird – verschlissen von der Presse, der Öffentlichkeit, der Industrie, aber auch von ihrem privaten Umfeld. Die entmenschlicht wird. Aufgefressen wird. Vernichtet wird. Die benutzt und in eine Fantasie gezwängt wird und stetig ein bisschen mehr zerbricht, bis sie schliesslich daran kaputtgeht.

Eine strahlende Ana de Armas

Aber reden wir noch über Ana de Armas: Sie ist fantastisch. Um nicht zu sagen: göttlich. Eine würdige Marilyn Monroe, auch wenn an der «falschen» Herkunft und dem trotz einjährigem Sprachtraining nicht lupenreinen Akzent herumgemäkelt wird. Wie krämerisch, bringt sie doch formvollendet das zur Blüte, worauf es ankommt: diese geradezu überirdische Erscheinung – dieses Strahlen, aus der Dunkelheit heraus, fragil und flüchtig, flirrend und flackernd zwar, aber anders als jedes andere Strahlen, heller, mächtiger, allumfassender, alles erhellend. Und als es dann erlosch, da war die Welt für immer ein dunklerer Ort. Doch folgt man Dominik, so hat diese grausame Welt eine wie Norma Jeane Mortenson ohnehin nie verdient. Er aber, der besessene Regisseur, wird ihr vollauf gerecht und lässt sie in einer letzten berückenden, bezaubernden Aufnahme im Totenbett ruhen. Lässt sie in die Freiheit entschwinden. In die Unsterblichkeit. Unendlich traurig ist das. Am Ende aber doch tröstlich. Und tatsächlich, da ist es dann noch einmal: dieses Strahlen, dieses wunderschöne Strahlen.