von Sandro Danilo Spadini
Ein ganzes Jahr haben Johnny (Joaquin Phoenix) und seine Schwester Viv (Gaby Hoffmann) mittlerweile nicht mehr miteinander geredet oder halt nicht mehr so, wie sie es früher getan
haben. Sie hatten sich damals entzweit ob der Frage, wie mit der dementen Mutter an deren Ende umzugehen sei – einer störrischen Frau, die ihn bewundert und sie nie verstanden hat. Und als
sie dann starb, hatten sie sich, so schien es, einfach nichts mehr zu sagen. Doch nun, wo Johnny gerade in Detroit ist, um Kinder fürs Radio über ihre Ängste und Hoffnungen für die Zukunft zu
befragen; nun also, wo er in dieser Stadt, die ihre Zukunft längst hinter sich hat, im Hotelzimmer ausspannt – da führen er und Viv doch tatsächlich wieder ein richtiges Gespräch, bringen sich
auf den neusten Stand und schliessen sodann einen Pakt, der gerade ihm die Augen öffnen und endlich eine neue Sicht auf die Welt und das Leben eröffnen wird: Während Viv rauf nach Oakland reist,
um sich um ihren psychisch schwer angeschlagenen Gatten (Scott McNairy) zu kümmern und einmal mehr die Dinge in Ordnung zu bringen, fliegt Johnny nach Los Angeles runter, um in der Zwischenzeit
zu Vivs neunjährigem Sohn zu schauen, seinem Neffen Jesse (Woody Norman). Klug und merkwürdig sei der, meint Viv: «Eine ganze kleine Person!» Und übertrieben ist das nicht. Am ersten Morgen in
L.A. etwa wird Johnny davon geweckt, dass Jesse in einer Höllenlautstärke Mozarts Requiem hört. Und sein Lieblingsspiel ist es, sich vorzustellen, er sei Waise und bei Viv (oder nun eben Johnny)
zur Pflege. Der Junge hat also definitiv eine makabre Seite, das merkt Johnny rasch. «Warum nicht mal etwas Normales machen?», fragt er den kleinen Wirbelwind denn auch einmal. Doch die Antwort
darauf kennt er da schon längst. Und ebenso längst ist ihm Jesse da bereits ans Herzen gewachsen und zum treuen Gefährten geworden, der ihm auch dann pausenlos wirres Zeug quasselnd und Fragen
bohrend am Rockzipfel hängt, als er für die Arbeit heim ins geliebte New York und alsbald weiter nach New Orleans muss. Die Initiative dazu war wohlgemerkt von Johnny gekommen. Denn auch er hat
da ein paar Fragen zum Leben, auf die ja vielleicht ausgerechnet dieser «kluge und merkwürdige» Bub eine Antwort weiss.
Es ist persönlich
«C’mon C’mon» heisst der neuste und bislang
fraglos grösste Wurf von Drehbuchautor und Regisseur Mike Mills; und wie immer beim 55-jährigen Kalifornier ist es persönlich, geht es um Familie, mehr oder weniger verklausuliert um seine
Familie. Arbeitete er in «Beginners» noch humorvoll das sehr späte Coming-out seines Vaters auf und porträtierte er danach in «20th Century Women» seine Mutter, hat er «C’mon C’mon» nun seinem
Sohn gewidmet. Aber es wird in dieser Geschichte, die sich zwischendurch immer wieder mal im Kreis dreht, deswegen nicht nur mit Kinderaugen auf diese grosse und laute Welt geblickt, auch wenn
Mills den Kids hier eine starke Stimme gibt und die kleinen Tragödien und Komödien, die grossen Fantastereien und Abenteuer eines eben erst angebrochenen Lebens mit ebenso gebührendem Ernst
schildert wie die einschneidenden und entscheidenden Dramen, die es gerade in den heutigen USA eben auch in solch jungen Jahren allzu oft gibt. Geradeso oft wird die Elternperspektive eingenommen
und über all die unermesslichen Freuden, aber auch die elenden Frustrationen sinniert, die das Erziehen so mit sich bringt: das Erkennen der eigenen Unzulänglichkeit etwa, wenn man schon wieder
keine befriedigende Antwort parat hat, oder die Achtlosigkeit, die fast zur Katastrophe geführt hat. Es geht hier aber auch darum, seine Grenzen zu erkennen, das Scheitern zu akzeptieren und
grosszügiger mit sich selbst zu sein und sich auch mal zu verzeihen. Und nicht zuletzt geht es darum, wie einer wie Jesse, der (noch) keinen Filter hat, einen wie Johnny, der wenig von sich
preisgibt, dazu bringen kann, sich daran zu erinnern, was man im Laufe der Zeit vergessen und verloren hat.
Das Herz am richtigen Fleck
Das hört sich jetzt doch recht gewichtig an, umso mehr, als sich zu den An- und Einsichten der in Detroit, New York und New Orleans interviewten Kids immer wieder theoretische Betrachtungen aus
Essays zu verschiedenen Themen gesellen; und dass das Ganze – wie gleich mehrere andere ambitionierte Werke in dieser Saison – in Schwarzweiss gekleidet ist, könnte obendrein als Hinweis auf eine
gewisse Schwere verstanden werden. Doch «C’mon C’mon» ist genau das Gegenteil: federleicht auch dann, wenn die Sonne untergegangen ist und die graue Realität die heitere Ferienstimmung eingeholt
hat und Jesse rotzt und trotzt und motzt und endlich alles auskotzt, was ihn fertigmacht. Dass das so ist, hat vor allem mit Joaquin Phoenix zu tun. Nie hat man den Oscar-Preisträger, der sonst
seinen spleenig-schwierigen Charakter geradezu zu zelebrieren scheint, derart entspannt und unverkrampft gesehen. Imposant auch, wie natürlich er mit sämtlichen seiner Mitspieler, allen voran
aber mit dem jungen Woody Norman eine Beziehung aufbaut; entsprechend «nah am Leben» wirkt denn auch das Zwischenmenschliche. Derweil die Dialoge bisweilen improvisiert scheinen und nicht frei
von eher humorlosem «Blabla» sind, wie es Jesse einmal nennt, und während die Handlung zwischendurch den Fokus verliert und etwas auf der Stelle tritt, pocht das Herz hier stets am richtigen
Fleck. Vermutlich weil es so persönlich ist, fühlt sich diese wunderbare kleine Geschichte so echt und herzlich an. Und regelrecht spürbar ist, wie viel Freude Mills und seine Mitstreiter
empfunden haben müssen beim Realisieren dieses mit prächtigen urbanen Landschaftsbildern ausgeschmückten Films. Nur konsequent ist es da, dass dessen Botschaft eine Mut machende ist: dass es
völlig okay ist, auch mal traurig und verwirrt zu sein. Und dass das Leben wohl nicht fair sein mag und die Menschen sicher nicht perfekt sind – aber dass es sich unbedingt lohnt, sich zu
kümmern in dieser komischen Welt.