von Sandro Danilo Spadini
Noch einmal jung sein im Kalifornien vor 50 Jahren: Wer sich doch tatsächlich nicht sowieso schon danach gesehnt hat, wird das nun nach dem Genuss von Paul Thomas Andersons Nostalgie-Trip
«Licorice Pizza» hoffentlich tun. Denn
diese einnehmend launige, hinreissend chaotische, umwerfend verpeilte Extravaganz – das sind 135 Minuten Sonne und Musik, über zwei Stunden güldenes Lebensglück und euphorische Sehnsucht und
obendrein ein lebhaftes Stück Cineasten-Kino und der bestaussehende Film seit ewig. Es ist das freilich auch ein Streifen, der in gleich doppelter Hinsicht wehmütig zu stimmen vermag: Da wird zum
einen eine Zeit heraufbeschworen, die so viel entspannter und unkomplizierter wirkt als unsere verbohrt-verbiesterte Gegenwart und wo alles möglich schien für ein junges Leben, das leichtsinnig
und verschwenderisch danach trachtet, sich selbst zu verwirklichen, und keinen einzigen Gedanken daran verjuxt, restlos alles aus sich herauszukitzeln. Und zum anderen zeigt Andersons neunter
Film, der es so was von locker mit seinen besten («Boogie Nights», «Magnolia», «There Will Be Blood») aufnehmen kann, wozu das Kino noch immer fähig und bereit wäre, wenn man es denn nur öfter
liesse – wenn mithin Künstler Filme erschaffen und sich ihre Freiheiten nehmen, statt dass Algorithmen massentauglichen Content fabrizieren, der obendrein noch der wütenden Wachsamkeit des
fletschenden Social-Media-Mobs standhalten muss. Ach, ach! Doch genug davon und Schluss mit dieser auch nicht mehr taufrischer werdenden alten Leiter und weg von diesem grauslichen Heute und
hinein und immer tiefer und tiefer hinein in die wunderbare Welt von «Licorice Pizza», wo das Unfertige und Unvollkommene, das Unüberlegte und Unvernünftige gefeiert werden.
Die komischen Käuze von Hollywood
Es ist das die Geschichte des 15-jährigen Schauspielers und Entrepreneurs Gary (Cooper Hoffman, Sohn des verstorbenen Anderson-Stammspielers Philip Seymour Hoffman) und der zehn Jahre älteren
Fotoassistentin Alana (Alana Haim, ein Drittel der Indie-Pop-Band Haim, für die Anderson schon manchen Videoclip inszeniert hat). Vor allem aber ist «Licorice Pizza» – der Name rührt ohne weitere
inhaltliche Bewandtnis von einer einstigen südkalifornischen Plattenladen-Kette her –, vor allem also ist das die Geschichte der auf und ab wogenden und hin und her schaukelnden Beziehung der
beiden schlagfertigen Youngsters und ihres Lebens im San Fernando Valley des Jahres 1973. Wobei: Geschichte? Na ja, übermässig viel erzählt wird hier bei Lichte betrachtet eigentlich nicht. Doch
wer möchte einen solch herzhaften cineastischen Leckerbissen denn schon bei Lichte betrachten! Jedenfalls ist es so, dass der grösstenteils nach dem Ebenbild des Ex-Kinderstars und
Anderson-Kumpels Gary Goetzman gezeichnete Gary und die meist missmutige Alana hier in wilder episodischer Abfolge ihren mannigfachen Leidenschaften und diversen Unternehmungen frönen und bei
ihrem «California Cruisin’» die Wege der unterschiedlichsten Unikums und komischsten Käuze kreuzen, die das alte und das neue Hollywood zu offerieren haben: Lucy Doolittle (Christine Ebersole)
etwa, in deren Variété-Show Gary auftritt und die eigentlich die in den USA enorm populäre Fünfzigerjahre-Fernsehkomikerin Lucille Ball darstellt. Oder der Schauspielstar Jack Holden (Sean Penn),
mit dem Alana bei einem Vorsprechen eine Szene üben darf und der eh der im Old wie im New Hollywood reüssierende William Holden sein soll. Oder Tom Waits als Regisseur Rex Blau, der ein
Riesenspektakel veranstaltet und der in Wahrheit Mark Robson sein dürfte. Und auch noch der testosteronwütige Filmproduzent Jon Peters (Bradley Cooper), dem Gary und Alana ein Wasserbett andrehen
und der tatsächlich der berüchtigte einstige Partner und Friseur von Barbra Streisand ist. Dazu kommen noch einige rein fiktive Vögel wie der von Leonardo DiCaprios Vater George gespielte
dröhnende Mr. Jack, der Gary ins Wasserbett-Business einführt, oder auch vergessene Figuren wie der versteckt schwule Bürgermeisterkandidat Joel Wachs (Benny Safdie) und der radebrechende
Japan-Restaurant-Besitzer Jerry Frick (John Michael Higgins) sowie die übrigen Mitglieder der Haim-Familie als Alanas Schwestern, Vater und Mutter. Mit anderen Worten: Das ist auch ein bisschen
ein Sittenbild voller verborgener Verweise. Und mit nochmals anderen Worten: Es ist dies ein nicht allzu ferner Cousin von Quentin Tarantinos Wunderwerk «Once Upon a Time… in Hollywood», an
dessen zumindest stilistische Brillanz «Licorice Pizza» sogar fast heranreicht.
Ein Hoch auf Haim und Hoffman
Anders als bei Tarantino ist diese ganze Hollywood-Insiderei bei Anderson indes nur Kulisse: der glamouröse Background für das grosse Kino, das zwei Newcomer hier abziehen. Die Last, die auf den
Schultern von Cooper Hoffman und Alana Haim ruht, ist ja nun alles andere als gering: ohne jegliche mimischen Meriten die überaus präsenz- und charismabedürftigen Hauptparts im neuen Werk eines
der derzeit angesehensten Regisseure zu übernehmen, und das nicht nur als Sohn eines allseits geliebten verstorbenen Überschauspielers respektive als Vertreterin einer fremden Kunstgattung,
sondern auch noch in Gegenwart hochdekorierter Stars wie Sean Penn und Bradley Cooper. Umso stupender ist es, wie Hoffman und Haim die Szenerie von der ersten Szene an dominieren. Letztlich sind
sie aber halt auch genau die Richtigen, um dieser tiefenrelaxten Coming-of-Age-Geschichte aus einer Periode, als die ganz grossen Träume schon ausgeträumt waren, ein Gesicht zu geben: ein
Gesicht, wo die Proportionen den gängigen Hollywood-Schönheitsidealen auch mal schroff zuwiderlaufen und die Haut eben gerade nicht porentief rein ist. Ein Gesicht mit Makeln sozusagen, das wie
die Faust aufs Auge passt zu einem Film, der nicht nach dem Perfekten, sondern nach dem Originellen strebt. Und der damit das tut, was nicht wenige Filme getan haben, die in der dargestellten
Zeit das Kino revolutioniert haben. Dass «Licorice Pizza» in den Siebzigern verortet ist, birgt aber nicht nur den Vorteil, dass das seinerzeitige Kinoschaffen und der kulturell überhaupt
hochspannende Kontext wachgerufen werden (und dass Anderson sich nebenbei ein Stück weit den heutzutage unvermeidlichen Gender-Debatten entziehen kann). Es ist auch einfach so, dass sich der
Regisseur in dieser Ära offenkundig heimisch fühlt, wie das ja schon «Boogie Nights» und «Inherent Vice» schön demonstriert haben. Gar mehr noch als dort ist es «Licorice Pizza» in jeder seiner
praktisch allesamt unvergesslichen Szenen anzumerken, anzusehen und anzuriechen, wie pudelwohl es Anderson in dieser Welt von früher ist. Einen Jubelfilm voller Freude und Freiheit, voller Fun
und Funk, voller Leichtsinn und Lockerheit, voller Liebe und Leben hat er uns da aus dem strahlend blauen Himmel runtergepflückt und in lächelnd goldenes Sonnenlicht getaucht. Ein Film zum
Träumen. Zum Schwelgen. Zum Seligwerden. Noch einmal jung sein im Kalifornien vor 50 Jahren. O Mann!