von Sandro Danilo Spadini
Ob diese Lou (Allison Janney) wirklich je substanziell bessere Zeiten erlebt hat, darf ruhig infrage gestellt werden – vieles jedenfalls deutet darauf hin, dass sie im Gegenteil eine
ziemlich düstere Vergangenheit mit sich rumschleppt. Jetzt aber scheint die notorische Einzelgängerin endgültig genug zu haben, sagt Sätze wie «Die Welt ist kein Spielplatz» oder «Das Leben kann
grausam sein» und meint jede Silbe davon. Die verdammte Arthritis setzt ihr zu, behindert sie beim Jagen. Umgekehrt: Eigentlich wäre jetzt gar nicht Jagdzeit. Aber das ist ihr so was von wurscht,
und auch der örtliche Sheriff (Matt Craven) mag nicht gross intervenieren, als er den toten Hirschbock auf der Ladefläche ihres Pick-ups erblickt. Mit dieser Lou ist nämlich nicht zu spassen. Und
ihr ist der wenige Spass, den sie allenfalls mal hatte in ihrem tendenziell krassen Leben, offenbar gründlich vergangen. Also geht sie zur Bank, hebt sämtliches nicht weniges Geld ab, tuckert
nach Hause, schnauzt die junge Frau auf dem Nachbargrundstück (Jurnee Smollett) wegen der ausstehenden Miete an, stapft in ihre Hütte, schenkt sich einen Whiskey ein, sammelt ein letztes Mal ihre
Gedanken – und hält sich die Flinte unters Kinn. Der Zeitpunkt für diesen dramatischen Akt passt ja auch gerade ganz gut: Ein Sturm historischen Ausmasses ist im Anzug, und auch im Land herrscht
derzeit Untergangsstimmung – im Fernsehen wird noch die tragische Challenger-Katastrophe aufgearbeitet, während Präsident Reagan daselbst unter Lous missbilligendem Blick schon brandschwarz zur
Iran/Contra-Affäre lügt. Wir finden uns hier mithin so um das Jahr 1986 herum wieder, wie schon Bon Jovis «Wanted Dead or Alive» in der Ouvertüre angetönt hat, und gelandet sind wir im
pazifischen Nordwesten, genauer auf einer der San Juan Islands im US-Bundesstaat Washington. Eine malerische Gegend, keine Frage. Wuchtig und urwüchsig. Wald und Wasser. Windig und stürmisch. Ein
guter Ort zum Leben. Und ein guter Ort zum Sterben. Findet zumindest Lou und führt endlich den Finger an den Abzug. Doch dann platzt nicht ein Schuss durch die Stille, sondern die säumige
Mieterin von nebenan zur Tür herein. Ihre Tochter sei gerade von ihrem totgeglaubten Ex (Logan Marshall-Green) gekidnappt worden, klagt Hannah und krächzt, der Verflossene sei ein Elitesoldat,
ein Mitglied der Green Berets, der wegen Kriegsverbrechen angeklagt worden sei, weil er in El Salvador Gefangene zum Spass gefoltert habe. Ein Psycho vor dem Herrn also und obendrein
Bombenspezialist. Doch Lou zuckt nur mit der Schulter. Schleudert ihren Rucksack auf selbige. Und macht sich mit Hannah und Hund Jax auf – raus in den tosenden Sturm und rein in den tiefen
Wald.
Champagner im Plastikbecher
Die Casting-Kapriolen der Filmindustrie werden auch immer doller: Allison Janney in der Rolle einer vom Leben zerschlissenen Kampfamazone? Jene drahtige Oscar-Preisträgerin, die durch ihre pure
Anwesenheit noch jeden Film besser gemacht hat, die es sonst aber eher mit Köpfchen macht, sich auf hohen Hacken ihren Weg bahnt und mit flotter Zunge noch jeden Kontrahenten in den Senkel und
ihre typischerweise prominenteren Co-Stars in den Schatten zu stellen pflegt? Sie, die sich einst in der Politserie «The West Wing» als Pressesprecherin des Präsidenten unsterblich gemacht hat,
watet nun in Arbeiterstiefeln durchs Dickicht und prügelt sich mit flinken Fäusten durch einen Rachefeldzug? Schon sehr seltsam das Ganze. Aber andererseits: Warum auch nicht? Wenn Juliette
Binoche eine LKW-Fahrerin spielen kann, wie jüngst im Thriller «Paradise Highway» geschehen, dann kann Allison Janney auch eine angejahrte Killermaschine geben. Und sosehr diese Besetzung auch
verblüffen mag, so vorhersehbar ist es dann, dass die 62-Jährige auch eine Rolle glanzvoll meistert, die qua Hollywood-Naturgesetz sonst für Männern und namentlich Liam Neeson reserviert ist.
Leider aber scheint es sich für die Macher von
«Lou», zu denen auch J.J. Abrams als Produzent zählt, mit dieser Idee konzeptionell auch schon erledigt gehabt zu haben: Allison
Janney in einer Liam-Neeson-Rolle – mehr ist da nicht. Die Überlegung war wohl: Wenn wir mit dem Casting schon so einen Coup landen, dann müssen wir uns beim Rest nicht mehr anstrengen und können
easy nach Schema F verfahren. Wobei «F» auch hier für «fucking boring» steht.
Plump, billig, sinnfrei
Regie geführt hat bei dieser handelsüblichen Netflix-Ausschussware mit der Deutschen Anna Foerster eine Frau, die ihr Handwerk bei Landsmann Roland Emmerich gelernt hat und dabei eher nicht so
eng mit der Kunst des subtilen Andeutens in Kontakt gekommen ist. Sie hat dann später fürs Fernsehen («Outlander») gedreht und mit dem Horrorreisser «Underworld: Blood Wars» 2016 auch eine
grössere Kinokiste verantwortet. Ihr Zweitling, der mehr laues Lüftchen denn markerschütternder Supersturm ist, geht nun quasi als Budgetvariante des zu wenig beachteten Angelina-Jolie-Thrillers
«Those Who Wish Me Dead» durch, deren plumpe Inszenierung von dem für diese Streamingprodukte so charakteristischen Digital-Billiglook und einer extrem aufdringlichen Kameraarbeit abgerundet
wird. Dass der finale Showdown dann doch noch mit optischen Reizen aufzutrumpfen vermag, soll zwar nicht verschwiegen werden; das ist aber zu einem guten Teil der spektakulären Kulisse zu
verdanken und kommt natürlich viel zu spät und eben zu einem Zeitpunkt, an dem das Interesse längst abgestorben ist – ausgeknipst von banalen Figuren, deren blasse Darsteller Allison Janney noch
vor dem Frühstück an die Glasdecke spielen könnte, und einem Skript, dessen grosser Clou sich diesen Namen so wenig verdient wie der Film das Melodram, das aus diesem folgt. Dass die ganze
Prämisse bei genauerer Betrachtung im Grunde nur sehr, sehr wenig Sinn ergibt, ist hingegen geschenkt. Denn einer genaueren Betrachtung bedarf dieses Trauerspiel eh nicht.