von Sandro Danilo Spadini
So schaut eine Frau aus, die es geschafft hat. Der Style makellos, der Body durchtrainiert, im Job top, im Kopf flott. Und der klobige Klunker an ihrer linken Hand, der gehörte einst
der Grossmutter ihres Verlobten, Luke Harrison mit Namen, und zwar der Vierte, altes Geld, üppiges Geld, ein geradeso makelloses, durchtrainiertes, karrierehungriges, blitzgescheites
Trust-Fund-Baby, das auf Nantucket kitesurft und in Vail Ski fährt, geboren mit Silberlöffel im Grinsemund und Wildlederslippern an den baren Füssen, selbstredend vormaliger Captain des
Lacrosse-Teams an einer Elite-Uni und ihr Ticket zur High Society von New York. Luke (Finn Wittrock) nennt sie Babe – freilich «mit den allerbesten Absichten». Ani (Mila Kunis) selbst
hingegen nennt sich: Psycho. Und wenn niemand hinsieht, dann stopft sie wie eine Berserkerin Pizza in sich hinein. Das kultivierte Auftreten? Bloss antrainiert; schliesslich stammt sie aus einer
stinknormalen Mittelklassefamilie, die Mutter (Connie Britton) ist sogar eine ziemliche Proletin, und an der schnieken Privatschule war sie dank eines Stipendiums. Die ganzen Auszeichnungen im
Redaktionsbüro? Gehören der Chefin (Jennifer Beals), so wie im Übrigen auch das Büro selbst. Ani, die eigentlich TiffAni FaNelli (sic!) heisst, ist bei der «Women’s Bible» nicht für die
gewichtigen Themen (Hillary!) zuständig, sondern mehr fürs «Schmuddelige», Blowjob-Techniken, Sextoys und dergleichen. Sie gibt nur vor, wichtig zu sein, jemand zu sein in dieser Welt der
Jemande, der Reichen und Schönen, der Flachen und Hohlen. Aber was hier vor allem nicht stimmt – das ist der Kopf, das ist das Herz, das ist die Seele. Ani ist faktisch komplett kaputt, eine
verkrachte Existenz zwischen Gewaltfantasien, Fressattacken und Wutausbrüchen, eine Frau mit einer Vergangenheit, einer düsteren, einer schlimmen Vergangenheit, schwer traumatisiert, ja gleich
doppelt traumatisiert, seit sie vor 16 Jahren, zu ihrer Zeit am Privatcollege, Opfer einer Massenvergewaltigung wurde und kurz darauf ein damit ursächlich zusammenhängendes Schulmassaker
überlebte, das noch heute – wir schreiben das Jahr 2015 – die Öffentlichkeit bewegt und beschäftigt, gerade auch, weil sie sich im Gegensatz zu einem mittlerweile sogar im Kongress grosse
Reden schwingenden Mistkerl von damals nie dazu geäussert hat und weil manche in ihr keine Heldin sehen, sondern eine Mittäterin vermuten, die sich an ihren privilegierten Peinigern rächen
wollte.
Sie verlangt Rehabilitation
Das
«Luckiest Girl Alive», wie der Titel des
auf dem gleichnamigen semiautobiografischen Bestseller von Jessica Knoll beruhenden neuen Netflix-Thrillers suggeriert, ist Ani also sicher nicht; das ist natürlich sarkastisch gemeint und passt
damit allerbestens zur Heldin, die in schnellen und scharfen Worten zu parlieren pflegt und so die Fassade ihrer erfundenen neuen Identität aufrechterhält, mit der sie diesem toxischen Cocktail
aus Scham, Schuld, Wut und Selbsthass Herr zu werden sucht. Eine andere, vielleicht gesündere Möglichkeit böte sich ihr, wenn sie sich dazu durchringen könnte, bei einer Dokumentation über das
Schulmassaker mitzuwirken. Deren Regisseur (Dalmar Abuzeid) hat jedenfalls «eine ganz andere Seite der Geschichte» entdeckt, wie er ihr eröffnet. Eine womöglich, die ihr endlich das bringt,
wonach sie am meisten lechzt, was sie ultimativ verlangt: Rehabilitation. Dass man wenigstens anerkennt, was ihr damals widerfahren ist: die Behörden, die Schule, die Öffentlichkeit, ja die
eigene Mutter, Himmelherrgott noch mal, und selbstverständlich die Täter respektive der eine Täter, der überlebt hat – der mit den scheinheiligen Reden, der ihr eben erst wieder öffentlich
unterstellt hat, sie sei Komplizin, nicht Opfer. Und der sie so, wie die anderen auch, immer wieder aufs Neue zum Opfer macht, ihr im Grunde zu verstehen gibt: Hab dich doch nicht so. Doch um
sich alldem zu stellen, vor aller Welt und gegenüber sich selbst, ist so verdammt schwer und umso härter, als wir wie gesagt im Jahr 2015 stehen, dem Jahr, in dem das Buch von Jessica Knoll
erschienen ist, und mithin in einer mittlerweile gleichsam grau anmutenden Vorzeit, in der die #MeToo-Bewegung noch weit weg war.
Keinerlei Längen
Dass die Rückblenden im Jahr 1999 spielen, ist derweil insofern ein neckischer Zufall, als dies das Jahr ist, in dem Regisseur Mike Barker seine bis dato beste Arbeit ablieferte. «Best Laid
Plans» hiess der kleine, fiese Thriller, den der Engländer da ins Kino brachte; und denkt man freudvoll an dessen zahllose Twists, Volten und Wendungen zurück, so spekuliert man auch hier, in
seinem ersten Spielfilm nach jahrelanger Serientätigkeit («Fargo», «The Handmaid’s Tale»), auf die eine oder andere späte Überraschung – dies umso mehr, als das Buch gerne mal mit Gillian
Flynns «Gone Girl» verglichen worden ist und man das schliesslich auch so versprochen bekommen hat. Man wartet dann aber vergebens; und überhaupt erwecken die recht platte Ästhetik und die von
Rückblenden, Selbstgesprächen und Fantasien verruckelte Erzählweise den Eindruck, Barker sei hier nicht eben im Zenit seines Könnens. Dass er auch noch Mühe bekundet, den passenden Ton zu finden,
macht die von ihrer Prämisse her an die Teenagerdrama-Serie «13 Reasons Why» erinnernde Sache auch nicht geschmeidiger. Allerdings hat «Luckiest Girl Alive» trotz fast zwei Stunden Spielzeit
keinerlei Längen und in Mila Kunis eine überaus dominante Hauptdarstellerin, die den Film zu erden vermag, wenn er wieder mal in die falsche Richtung abheben will oder abzusaufen droht. Gleiches
gilt für die 20-jährige Newcomerin Chiara Aurelia («Cruel Summer»), die als junge Ani (oder besser: TiffAni) eine Glanzleistung abliefert. Dass die Figuren um diese quasi doppelte Ani herum mehr
Archetypen und Platzhalter, bisweilen gar regelrechte Karikaturen sind, lässt sich da verschmerzen – sicher auch deshalb, weil die Nebendarsteller (Wittrock, Britton, Beals und dazu Scoot McNairy
als verständnisvoller Lehrer und Justine Lupe als treue Freundin) das Maximum aus ihren mal mehr, meist indes weniger dankbaren Rollen herausholen. Fast noch verdorben wird die Freude über das
zuvor Gesehene freilich in den Schlussminuten, wenn mit Knoll und Barker das Sendungsbewusstsein durchgeht und sie mit Fanfaren den Anbruch der #MeToo-Ära verkünden. So vollkommen unzweifelhaft
wichtig und richtig die Botschaft hier auch sein mag: Das ist immer noch das gewisse Finessen erfordernde Medium Film und nicht eine Meinungskolumne im «New York Times Magazine». Daselbst findet
Ani am Ende, das sehr happy und uramerikanisch ausfällt, unter Powersong-Klängen dann noch zu Ruhm und Prestige – als ob es darum ginge. Aber dieses Scharwenzeln bei den oberen Zehntausend, das
scheint hier halt fast noch mehr zu faszinieren als das True-Crime-Element, das mit der Doku im Film durchaus mehr Gewicht hätte bekommen können. Vielleicht wäre das ja die Chance gewesen, noch
mehr herzumachen. Eine solide Sache ist das aber auch so.