von Sandro Danilo Spadini
Viele Worte macht dieser Stanton Carlisle (Bradley Cooper) nicht, als er eines Abends im Jahr 1939 bei einem schummrigen Wanderjahrmarkt aufschlägt. Dass er nichts Gutes im Schilde
führt und eine disruptive Düsternis im Rucksack hat, wird indes auch so bald klar. Es komme da ein Sturm auf, wird ihm kurz nach seiner Ankunft vielsagend beschieden; er solle mit anpacken. Und
dieser Sturm, der kommt eben nicht nur in Form blitzender Winde und donnernden Regens, sondern auch in Person dieses geheimnisvollen Fremden, dem wenig später, als er bereits in dem vom
verschlagenen Halunken Clem (Willem Dafoe) geführten Karneval angeheuert hat, von der Wahrsagerin Zeena (Toni Collete) attestiert wird, er sei «Trouble». Das indes hätten wir ihr schon viel eher
vorhersagen können: spätestens nachdem wir ihn im Publikum einer brutalen Freakshow beobachtet und bemerkt hatten, wie es bei ihm berechnend im Kopf ratterte, während den übrigen Zuschauern die
geile Schaulust ins Gesicht geschrieben stand – und recht eigentlich ja schon nach der allerersten Szene, wo er sein Haus abfackelt, nachdem er darin eine Leiche im Fussboden entsorgt hat.
Zunächst jedoch vermag dieser achtsame und wachsame Schmeichler und Schwindler, der seine anfängliche Scheu längst abgelegt hat und in grossspurigen Reden von hochfliegenden Träumen
schwadroniert, mit einer anderen Qualität zu bezirzen, die ihm Madame Zeena nachsagt: mit Elan, den er nicht nur dazu nutzt, Leben in den vor sich hin dämmernden Betrieb zu bringen und mit
frischen Ideen die Grenzen des Vertretbaren auszuloten, sondern auch, um das Vertrauen von Zeenas saufseligem Mann und Mentor Pete (David Strathairn) zu gewinnen und das Herz der Artistin Molly
(Rooney Mara) zu erobern. Mit ihr macht er sich schliesslich denn auch auf in neue Gefilde und höhere Sphären: in die High Society von Buffalo, wo er fortan hoch pokert und noch höher stapelt und
Schabernack und Schindluder treibt mit den Sinnen der Reichen und Mächtigen. Und wo gleichsam ein neuer Film beginnt.
Irrlichternde Seelen und pechschwarze Herzen
«Nightmare Alley», das neue Filmgemälde des
Oscar-gekrönten Kinomagiers Guillermo del Toro («The Weight of Water»), ist die Verfilmung eines 1946 veröffentlichten Romans von William Lindsay Gresham und das Remake des 1947 erschienenen
harschen Film noir von Edmond Goulding, der damals zwar floppte, heute aber Kultstatus geniesst. Und es sind das also quasi zwei Filme in einem. Im ersten, gelungeneren Teil entführt uns del Toro
in die bisweilen verstörende Welt der Freakshow-Karnevale: an einen Ort, wo es «egal ist, woher du kommst und was du gemacht hast» – ein Ort mithin wie geschaffen für den innerlich hohlen
Manipulator Stanton, der die Leute lesen kann und ihnen sagt, was sie hören wollen. Ein entrückter Ort voller irrlichternder Seelen und pechschwarzer Herzen, in dem Vierschrötiges und
Halbseidenes, Grobschlächtiges und Abgeschmacktes, Haarsträubendes und Nagelkräuselndes, Albträumerisches und Wahnsinniges wuchern und das Böse inmitten von Krüppeln in Käfigen, Embryonen in
Einmachgläsern und Mädeln in elektrischen Stühlen gedeihen kann. Del Toro inszeniert diesen Kosmos in der gewohnt opulenten Bildsprache, mit viel Rauch und Nebel, viel Glitzer und Funkeln, viel
Wucht und Pracht, schlägt im Kontrast dazu aber ein bedächtiges, mitunter fast behäbiges Erzähltempo an. Damit gibt er uns Zeit, uns wie der Neuankömmling Stanton in dieser so fremden wie
befremdenden Umgebung einzuleben und die Gestalten, die diese bevölkern, kennen zu lernen. Freilich werden wir die meisten von ihnen im zweiten Teil kaum wiedersehen. Denn zu diesem Zeitpunkt hat
Stanton den Morast des Karnevals lang hinter sich gelassen, ist vom Schatten ins Licht geschlichen und in den Sumpf des Machtzirkus eingetaucht, wo Leute wie der finstere Millionär Ezra Grindle
(Richard Jenkins) den Ton angeben und die Psychiaterin Lilith Ritter (Cate Blanchett) Stantons Weg kreuzt und endlich vorzeichnet: eine Femme fatale von eiskalter Eleganz und schneidendem
Scharfsinn, in der unser Scharlatan – und für diese Weissagung kann Zeena ihre Tarotkarten stecken lassen – seine Meisterin finden wird.
Poetische Fantasie statt noiriger Abgründe
Diesen zweiten Teil hat del Toro sogar noch ausschweifender inszeniert und noch luxuriöser ausgestattet. Es ist das indes ein Augenschmaus der eher üppigen denn raffinierten Sorte, ist dieses
Kontrastprogramm im Art-déco-Chic doch von einer ziemlich dicken künstlich erzeugten Zuckerschicht überzogen. Weil del Toro nur punktuell den Meistern des Film noir huldigt und ansonsten seinem
ureigenen, poetisch-fantastischen Stil treu bleibt, kommt das Ganze allzu geschmeidig und atmosphärisch falsch gepolt daher, mit zu viel Pulp und Pomp. Und weil das mit seiner Gattin Kim Morgan
verfasste Skript allzu oft tändelt und tatenlos am Rande des Abgrunds stehen bleibt, statt tief und lange in ihn hineinzublicken, mangelt es auch etwas an Substanz und Dringlichkeit, an Schmiss
und Schneid. Ein visuelles Schmankerl, ein psychologischer Happen und ein mimischer Leckerbissen ist das zwar nichtsdestotrotz, wiewohl Bradley Cooper wie weiland Tyrone Power vielleicht nicht
die Ideal-, aber sicher keine Fehlbesetzung ist. Dass der magische Märchenonkel Guillermo del Toro hier am richtigen Ort ist – das indes darf mit Fug angezweifelt werden. Das allgemein erhoffte
und augenfällig auch angestrebte Meisterwerk ist ihm mit «Nightmare Alley» jedenfalls nicht geglückt – sondern «nur» ein spektakulär prunkvoller, prächtig stilisierter, aber letzten Endes
eben auch allzu flüchtiger Blick in den schwarzen Kern einer von Anfang an verlorenen Seele.