von Sandro Danilo Spadini
Warum?, fragt Amy (Jessica Chastain) ganz am Schluss. Doch was Charlie (Eddie Redmayne) dann sagt, bringt kaum Licht in dieses pechschwarze Dunkel: weil man ihn nicht aufgehalten
habe, meint er achselzuckend. Warum?, fragen auch wir uns da, am Ende des True-Crime-Thrillers
«The Good Nurse», nach zwei Stunden, in denen Regisseur Tobias Lindholm und Drehbuchautorin Krysty Wilson-Cairns nichts erklärt
haben. Nichts erklären konnten. Und auch nichts erklären wollten, was niemand wissen kann. Worüber auch fast 20 Jahre später noch fassungslos gerätselt wird. Nicht einmal das Ausmass dieses
Wahnsinns ist klar. 29 Patienten sind es nach offizieller Zählung, die der Pfleger Charlie Cullen zwischen 1988 und 2003 in insgesamt zehn Krankenhäusern in New Jersey und Pennsylvania mittels
eines manipulierten Infusionsbeutels umgebracht hat. Gemutmasst wird indes, dass er bis zu 400 Menschenleben auf dem Gewissen haben könnte. Eine unfassbare Zahl. Ein unermessliches Leid. Eine
unbegreifliche Grausamkeit. Doch wie so oft sieht man den Teufel nicht kommen, tritt das absolut Böse in unscheinbarer Gestalt auf. Amy erscheint es in Person des Neuen auf der Krankenstation,
eines etwas linkischen Typen: bleich und schlaksig, nicht eben ein Temperamentsbündel. Aber fraglos zupackend und durchaus umgänglich. Und vor allem: mitfühlend. Und so einen kann die
alleinerziehende Mutter jetzt gerade gut gebrauchen. Eben erst hat ihr der Arzt gesagt, dass sie einen massiven und womöglich tödlichen Infarkt erleiden werde, wenn sie so weitermache. Doch Amy
muss so weitermachen. Sie ist noch kein Jahr in diesem Job und deshalb noch nicht krankenversichert. Vier Monate fehlen ihr noch, bis der Mechanismus im Arbeitsvertrag greift und die Kosten der
Herztransplantation, die sie so dringend braucht, gedeckt sein werden. Vier Monate, in denen Charlie, der Neue, der auch zwei kleine Töchter hat, sie entlasten wird, ihr beistehen wird, ihr
helfen wird, wo er kann. Und in denen er, der produktivste Serienkiller der Geschichte, weitermorden wird.
Kritik an krankem System
Eine himmeltraurige Geschichte mit abgrundtiefer Düsternis ist das. Und himmeltraurig wirkt auch die Szenerie von «The Good Nurse»: eine graue, regnerische Tristesse, in die sich dann und wann
ein wenig Krankenhausgrün mischt. Düster hingegen ist das nicht. Denn in die Abgründe steigt der Film eben gerade nicht hinab. Das schiene dem dänischen Regisseur Tobias Lindholm («A War», «A
Hijacking») wohl zu plakativ, zu sensationslüstern. Und diese Sensationslust, die mit dem True-Crime-Genre nun mal unabdingbar verbunden ist, diese perverse Faszination für das Böse, die will
Lindholm partout nicht bedienen. Stattdessen wählt er einen Ansatz, der so unaufgeregt und unterkühlt, so seriös und nüchtern ist, dass er bisweilen fast schon ins Klinische kippt. Einen leicht
erhöhten Puls hat der Film eigentlich nur, wenn er das kranke System anprangert, das eine wie Amy sich selbst überlässt und einen wie Charlie über Jahre gewähren lässt, ein profitorientiertes
Gesundheitssystem, das Patienten entmenschlicht und zu Nummern degradiert. Wenn er zwei engagierte Ermittler (Nnamdi Asomugha und Noah Emmerich), die sieben Wochen (!) nach einem «unerklärlichen
Vorfall» gerufen werden, in den Nachkampf schickt gegen die defensive Spitaladministration mit ihrem wieseligen, verklausuliert drohenden Anwalt und der eiskalt verbissenen «Risk-Managerin» (Kim
Dickens), dann fliegen auch mal die Fetzen; dann wird die Empörung über die Vertuschung und die Hinhaltetaktik, über die Geringschätzung von Menschenleben offenbar. Ansonsten jedoch verbleibt das
Geschehen in einer Art nebligem Dämmerzustand, aus dem es nur kurz erwacht, nachdem sich die Zweifel über das Vorgefallene endlich zur Gewissheit verfestigt haben. Jetzt, wo endlich klar geworden
ist, womit wir es hier tatsächlich zu tun haben, wäre es doch an der Zeit, das Blut in Wallung zu bringen; doch Lindholm, der bei der Serienkiller-Serie «Mindhunter» schon in ähnlichen Sphären
operiert hat, ist weiterhin vornehmlich darauf aus, dieses in den Adern gefrieren zu lassen. Und so schleppt sich sein Film eher träge seinem letztlich unterwältigenden und antiklimaktischen
finalen Akt entgegen. Nur sporadisch haucht er ihm noch etwa Leben ein, injiziert ihm eine Minidosis Adrenalin, indem er inmitten all des Freudlosen, wo selbst die Pizza ungeniessbar ausschaut,
mal ein adrett arrangiertes und raffiniert gerahmtes Bild präsentiert. Das ist dann aber auch schon das Äusserste an cinematischer Ausschmückung, was er sich und uns gönnt.
Auch nur eine Zahl
In höchstem Masse filigran und kinowürdig ist hingegen das, was die beiden Stars dieser Netflix-Produktion abliefern, die Oscar-dekorierten Eddie Redmayne («The Theory of Everything») und Jessica
Chastain («The Eyes of Tammy Faye»). Beide sind sie optimal besetzt – Chastain als Kämpfernatur und Redmayne nur schon aus physiognomischer Sicht –, und beide holen auch das Optimum heraus aus
ihren bloss schemenhaft umrissenen Figuren. Dabei steht auch ihr – notabene sehr harmonisches – Spiel im Dienste der Seriosität, des Understatements, dem sich der Film so konsequent
verschrieben hat. Sie aber verstehen es besser als die Regie und das Drehbuch, den Verzicht auf jegliche manipulative Technik zu kompensieren und diesem recht undankbaren Stoff, der vielleicht in
einer Dokumentation besser aufgehoben gewesen wäre, den einen oder anderen erinnerungswürdigen Moment abzuringen. Was Redmayne und Chastain derweil nicht schaffen, ist, diesem am Ende der
Nachtschicht frustrierend flachen und unbefriedigend vagen Film jene Tiefe zu verleihen, die ihn überhaupt eine Wirkung erzielen liesse. Zu mehr als solidem Mittelmass reicht es «The Good Nurse»
so nicht – denn mehr als eine Zahl ist am Ende auch dieser Charlie Cullen nicht.