Achtung! Fertig! Los?

Das so federleichte wie gewichtige norwegische Liebesdrama «The Worst Person in the World» führt durch sämtliche Höhen und Tiefen, die sich im Leben junger Leute bei ihrem entscheidenden Schritt ins Erwachsenenleben heutzutage so auftun.

Renate Reinsve im Film The Worst Person in the World

Frenetic

von Sandro Danilo Spadini

Nun lauert er also bereits gut sichtbar am Horizont, der 30. Geburtstag. Und natürlich macht sich Julie (Renate Reinsve) jetzt so langsam ihre Gedanken, was die Gesellschaft denn von ihr erwartet. Was ihr Umfeld sich von ihr erhofft. Die Familie. Und vor allem: sie selbst. Inmitten dieser Findungsphase vor dem letzten, dem entscheidenden Schritt ins Erwachsenenleben ist Julie freilich in einer recht komfortablen Lage: Sie kommt aus privilegiertem Haus, wohnt mitten in Oslo, ist nicht auf den Kopf gefallen, und Geld scheint kein drängendes Problem zu sein. Alles in allem unterscheidet sich ihr Dilemma mithin kaum von dem anderer urban-akademischer Vertreterinnen ihrer Generation der Millennials: alles kann, nichts muss. Doch die scheinbar grenzenlose Wahl, sie ist eben auch eine wahre Qual. Schon im Prolog von Joachim Triers «The Worst Person in the World», der den insgesamt zwölf Kapiteln plus Epilog vorgelagert ist, kommt das auf witzige und formal kongeniale Weise zum Ausdruck – dieses Flatterhafte, Rastlose, Wankelmütige, Sprunghafte, Atemlose. Mit der Begründung, dass sie der Geist schon immer mehr interessiert habe als der Körper, wechselt Julie da vom Medizin- zum Psychologiestudium, nur um ein paar schnell geschnittene Szenen darauf zu postulieren, sie sei doch seit je eine visuelle Person gewesen und daher sei das Fotografieren das Passende für sie. Und weil Julie nicht nur die Berufswahl schwerfällt, geben sich in dieser kurzen initialen Geschichte eines Neuanfangs (respektive diverser Neuanfänge) auch die Männer die Klinke in die Hand. Als es dann aber mit Kapitel 1 so richtig losgeht, beruhigt sich die Sache auch schon wieder ein wenig. Mit dem renommierten Comicbuchzeichner Aksel (Anders Danielsen Lie), anderthalb Jahrzehnte älter als sie und längst in ruhigeren Fahrwassern unterwegs, taucht einer auf, der zwar an einem gänzlich anderen Punkt in seinem Leben steht, mit dem es aber doch tatsächlich etwas von Dauer werden könnte. Indes hält auch diese Idylle nur so lange, wie Julie ein Wochenende mit Aksels bürgerlich gewordenen Freunden verbringen muss und das Thema Kinder zur Sprache kommt. Denn auch in dieser Frage kann und will sich Julie nicht festlegen: Sie wolle zwar Kinder, einfach nicht jetzt, sagt sie, aber sie glaube halt, sie habe keinerlei Mutterinstinkt. Ach, sie wisse es doch auch nicht. Und uns schwant derweil, dass das für Julie und Aksel eine recht turbulente und ziemlich zähe Liebesgeschichte werden könnte, die in den nun noch verbleibenden rund 100 Minuten weitererzählt wird. Was wir da indes ebenfalls in frohlockender Erwartung zu wissen meinen: dass das für uns als neutrale Beobachter das reinste Vergnügen sein wird.

Klug und lebensecht

Und man verspricht sich da ganz sicher nicht zu viel. Denn nicht nur sprudeln aus dem Skript von Trier und seines Stammschreibers Eskil Vogt («Thelma») Wortwitz und Weisheiten, wenn sie sich daranmachen, diese verwirrende Phase in Julies Leben als ein mal heiteres, mal trauriges, mal ans Herzen rührendes, mal an die Nieren gehendes Chaos voller Komplikationen und Katastrophen aufzuziehen; und nicht nur würzen sie zum Abschluss ihrer vor 15 Jahren begonnenen «Oslo-Trilogie» ihre klugen und so verdammt lebensechten Beobachtungen mit lässig dahingeworfenen Kommentaren zu Kultur, Feminismus, Zeitgeist, Psychologie und Generationen-Clash. Trier übersetzt in seinem fünften Spielfilm all diese Verwerfungen auch in eine oft spektakuläre und immer intelligente Bildsprache: die Angst, dass es nun allmählich ans Eingemachte geht, dass es keine Option mehr sein kann, ständig vor dem Ernst des Lebens und den damit einhergehenden Problemen davonzulaufen; der Moment, wenn alles plötzlich in einem ganz anderen Licht erscheint, wenn die Hormone Purzelbäume schlagen und das Leben kopfsteht; die elend deprimierende Erkenntnis, wenn die Unzulänglichkeiten des Gegenübers aufhören, charmant zu sein, und anfangen zu nerven; die vermeintliche Gewissheit, nun doch endlich am richtigen Ort angekommen zu sein, und die Erkenntnis, dass auch diese Geborgenheit wieder nicht überdauern wird.

All das dazwischen

Das ist eine regelrechte Achterbahnfahrt, auf die uns Trier da mitnimmt, ohne dass uns dabei freilich schwindlig werden würde; ein waschechtes Wechselbad der Gefühle, in dem wir uns indes weder Verbrennungen noch Frostbeulen holen. Denn trotz dieses Hangelns zwischen den Extremen und den ganzen Eruptionen ist das niemals nur schwarz oder weiss, sondern vor allem all das viele dazwischen, die Grau- und Zwischentöne. Und wiewohl das nie ermüdende Geschehen im Minutentakt von lustig zu romantisch zu nachdenklich zu tragisch zu euphorisch zu philosophisch wogt, fühlt es sich an wie aus einem Guss – selbst wenn Trier seine visuelle Herangehensweise mal aufgibt und in den dialogintensiven Modus schaltet. Das hat zum einen damit zu tun, dass sich all diese Episoden einfach fesselnd vertraut anfühlen und ganz intensiv nach richtigem Leben riechen. Es ist aber auch der in Cannes ausgezeichneten Hauptdarstellerin geschuldet. Renate Reinsve ist in ihrer ersten Kino-Hauptrolle die Klammer, die das alles zusammenhält. Ihre Julie ist zwar keine reine Sympathieträgerin, wenn sie in ihrer nicht zu zähmenden Ungeduld, im nagenden Warten darauf, dass ihr Leben jetzt endlich mal losgehen möge, ein ums andere Mal verbrannte Erde hinterlässt. Aber «die schlechteste Person der Welt»? Das ist sie nun auch nicht gerade. Am Ende ist sie schlicht die perfekte Protagonistin in diesem hellsichtigen Generationenporträt.