von Sandro Danilo Spadini
«Sie haben Leute, mit denen sie reden können, nehme ich an? Familie? Freunde?», fragt der Arzt. «O ja», antwortet ihm Hilary (Olivia Colman) ganz fix – so fix, dass wir keinerlei
Zweifel haben, dass das gelogen ist. Und auch davor, als die Mittvierzigerin zu Protokoll gegeben hat, ihre Stimmung sei stabil, war das wohl nicht die volle Wahrheit. Denn was wir bislang von
ihrem Leben mitgekriegt haben, das war nicht nur trist, sondern traurig: die abendliche Einsamkeit zu Hause, das routinierte Verrichten ihrer Pflichten als diensthabende Managerin in einem Kino,
die freudlose Affäre mit dem Chef (Colin Firth), einem Typen, der vor dem Personal steif und streng auftritt und dann im Büro, auch da steif und streng, nur anders, Hilary beim Abreagieren seiner
sexuellen Frustration ins Ohr stöhnt, er finde sie so hilfreich und dass sich ihr Hintern in seinen Händen gut anfühle – wahrlich kein Romeo von Gottes Gnaden. Doch dann geht ein Licht auf
in Hilarys Leben, das einige Monate zuvor wegen ihrer bipolaren Störung völlig aus den Fugen geraten war und nunmehr dank dem verschriebenen Lithium bestenfalls in betäubt geordneten Bahnen
verläuft: Der motivierte junge Schwarze Stephen (Micheal Ward) tritt kurz vor Silvester seine Stelle als Hilfskraft im Kino an, bevor er sich im Sommer Richtung Universität aufmachen wird. Und er
wird Hilary nicht nur den Kopf verdrehen und mit ihr eine unwahrscheinliche romantische Schicksalsgemeinschaft zweier unterschiedlich Leidender bilden, in der sie gegen die Dämonen in ihrem
Inneren und er gegen die Monster draussen ankämpft. Er wird Hilary auch in so vieler Hinsicht die Augen öffnen. Für die raue Welt hinter den Kinopforten, wo er bald dem höflichen alltäglichen,
bald dem hässlichen glatzköpfigen Rassismus im eisenharten, kalten England Margaret Thatchers ausgesetzt ist. Aber auch für die Schönheit dieses in die Jahre gekommenen Lichtspielpalasts direkt
an der Promenade einer südenglischen Küstenstadt und die cineastischen Schätze, die es beherbergt. «Was für ein magischer Ort», entfährt es ihm, als Hilary ihm den längst von Tauben in Beschlag
genommenen obersten Stock zeigt. «Es war wirklich schön», meint sie. «Ist es immer noch. Eine andere Welt», kommt er gar nicht mehr aus dem Schwärmen raus.
Klischiertes Personal, manipulatives Gebaren
Schwärmerisch: Das möchte auch das Drama
«Empire of
Light» des englischen Starregisseurs Sam Mendes («American Beauty», «1917») sein. Und dazu noch: Nostalgisch. Melancholisch. Romantisch. Zeitkritisch. Aufklärerisch. Und bei alledem:
selbstverständlich relevant. Was der neunte und mit grossem Abstand schwächste Film des Oscar-Preisträgers aber in erster Linie ist, wird schon im Vorspann mit seinen erstaunlich altbackenen
Klängen aus der Feder der Maestros Atticus Ross und Trent Reznor augen- und eben auch ohrenfällig: ein bisschen sehr sentimental und betulich. Wie sich recht bald weisen wird indes, ist das noch
nicht mal das problematischste Manko dieses Prestigeprojekts. Denn all die Dinge, die er erörtern und erklären will, unter einen Hut zu bringen – daran scheitert Mendes bei seinem ersten Versuch
als allein verantwortlicher Drehbuchautor nachgerade kläglich. Sein Skript macht einen unsortierten Eindruck, wirkt unentschlossen und immer wieder unschlüssig, welchem seiner zahlreichen Themen
es nun gerade seine Aufmerksamkeit widmen möchte; und es ist bisweilen regelrecht plump: dies nicht nur in der Präsentation seines im Schatten der beiden Leads bloss holzschnittartig modellierten
Personals, das sämtliche Standardklischees des britischen Films bedient – der schmierig schurkische Chef, der linkisch lulatschige Spassvogel (Tom Brooke), das flapsig flippige Dummchen
(Hannah Onslow), der knorrig kantige Nerd (Toby Jones). Sondern auch bei seinen Versuchen, emotionales Engagement zu erzeugen, die quasi im Kontrast zur energie- und emotionsarmen Inszenierung
ordentlich ruppig ausfallen: so etwa, wenn eine Horde Skinheads ins geschlossene Kino eindringt und Stephen fast zu Tode prügelt oder wenn Hilary, nachdem die Dinge abermals «ein kleines bisschen
ausser Kontrolle geraten» sind, ihren Chef an dessen grossem Abend mit der Premiere des späteren Oscar-Gewinnerfilms «Chariots of Fire» vor versammelter Mannschaft und seiner gehörnten Gattin
blossstellt. Trotz der Wucht ihres Vortrags wirken nicht wenige dieser Schlüsselszenen seltsam distanziert, immer auch leicht gekünstelt und einfach zu offensichtlich manipulativ.
Unerfülltes Versprechen trotz Dream-Team
An seinem Erscheinungsbild liegt es freilich nicht, dass dieses Drama nicht recht zu berühren vermag: Der Mendes-Vertraute Roger Deakins («Skyfall») zeigt sich fokussiert und zaubert mit seiner
Kamera auch hier ein ums andere Mal liebliche Bilder von ausgesuchter Schönheit auf die Leinwand – was ihm verdientermassen seine 16 (!) Oscar-Nominierung beschert hat. Und schon gar keine
Schuld trifft die beiden Stars, zuallerletzt die nicht mehr zu bremsende Spätblüherin Olivia Colman, die die ganze Palette ihrer Handwerkskunst abruft und höchste Stilnoten abholt auf ihrer
emotionalen Achterbahnfahrt. Und deshalb ist «Empire of Light» mitnichten ein miserabler Film, sicher nicht nach heutigen Standards. Es ist das sogar um ein Haar ein schöner Film – einer
obendrein, der etwas zu sagen haben scheint. Weil aber nie klar wird, was genau das ist, und weil Mendes die Zügel schleifen lässt, ist das am Ende – und am Anfang und in der Mitte
– ein Film, der trotz seines Dream-Teams (Mendes! Colman! Deakins! Ross/Reznor! Plus Christopher Nolans Stamm-Cutter Lee Smith!) den Erwartungen und den eigenen Ansprüchen nie auch nur
halbwegs gerecht wird. Der finale Moment der seelischen Erleuchtung und der cineastischen Erweckung, auf den das alles hinausläuft, wirkt denn auch unverdient, nicht redlich erworben und kippt so
prompt ins Rührselige. Am Schluss dann wird Hilary von Stephen an den Rat erinnert, den sie ihm früh in ihrer kurzen gemeinsamen Geschichte gegeben hat: «Gib nicht auf!» Hat er nicht getan, und
es hat sich ausgezahlt. Wir haben es auch nicht getan. Aber der Lohn war leider eher bescheiden.