Spinnweben im Kopf

Basierend auf einem wahren Fall: Im provokativ beklemmenden Serienkiller-Thriller «Holy Spider» verknüpft der iranische Regisseur Ali Abbasi auf versierte, wenn auch bisweilen brachiale Weise althergebrachte Genremotive mit Regime- und Gesellschaftskritik.

Zar Amir-Ebrahimi im Film Holy Spider

Xenix

von Sandro Danilo Spadini

Warum das iranische Kulturministerium so überhaupt keine Freude an diesem Film hatte und ihn sogar mit den verdammten «Satanischen Versen» verglich, wird schon im Prolog offensichtlich; dass «Holy Spider» von Ali Abbasi sehr viel mehr ist als bloss ein auf einem wahren Fall beruhender Serienkiller-Thriller, grad ebenso. In diesem Prolog passiert also das: Wir sehen als Allererstes eine Frau daheim vor dem Spiegel, nackt und mit blauen Flecken am Rücken. Sie macht sich ein wenig zurecht, um rauszugehen – raus in die Nacht von Maschhad, der 3-Millionen-Metropole im Nordosten des Iran, Heimstätte der grössten Moschee der Welt. Somayeh (Alice Rahimi) führt ein Doppelleben, das wird schnell klar – spätestens als die alleinerziehende Mutter sich in einer öffentlichen Toilette abermals vor einen Spiegel stellt, sich schminkt, die Schuhe wechselt, zwei Strähnen aus dem Kopftuch hervorzupft und dann wieder in die Dunkelheit taucht, Männer in Autos anspricht, zu ihnen einsteigt, in einem Hotelzimmer unter vulgärem Krächzen kopuliert, auf einem Parkplatz an einem sie prellenden Freier explizit gezeigten Oralsex verrichtet und dann, sich «beschissen» fühlend, Drogen konsumiert und erneut taumelnd durch die Nacht streift, über pulsierende Boulevards und in von Katzenjammer erfüllten fahlen Gassen, bis sie vom nächsten Lüstling aufgegabelt wird. Und dann, es sind jetzt zehn Minuten rum, nimmt dieses Taumeln ein Ende, ein jähes, brutales Ende, als sie im Treppenhaus einer Bruchbude mit ihrem eigenen Kopftuch erdrosselt wird und zum neunten Opfer des «Spider Killer» wird, eines religiös motivierten Irren, der zwischen 2000 und 2001 in einem «Jihad gegen die Dekadenz» am Ende 16 meist drogenabhängige Prostituierte umbrachte, weil er davon überzeugt war, dass dies seine Pflicht sei und er damit die unerledigte Arbeit der Polizei und das Werk Gottes ausführe, ein Bruder im kranken Geiste von Kevin Spaceys John Doe aus «Seven» quasi.
 
Tief verwurzelter Frauenhass
 
Dass Ali Abbasi («Border») den kompletten Auftakt seines dritten Spielfilms einem der Opfer widmet – das ist nicht nur ein Bruch mit den Konventionen dieses Genres, sondern auch ein überaus kluger, nachgerade weiser Zug. Er habe nicht einen weiteren Film machen wollen, der zeige, auf welche Arten ein Mann eine Frau töten könne, sagt der in Dänemark lebende Regisseur. Er habe vielmehr zeigen wollen, wie eine Gesellschaft, in der der Frauenhass tief verwurzelt und weniger religiös oder politisch als vielmehr kulturell begründet sei, einen Serienkiller erschaffe. Dabei freilich fühlt er sich diesem Genre und seinen Motiven gerade formal sehr wohl verpflichtet und wandelt in «Holy Spider» auf den Spuren von Klassikern wie David Finchers «Zodiac» oder «Manhunt» von Michael Mann, an dessen nächtliche Grossstadtgemälde Abbasis in Jordanien gedrehter Schocker ein ums andere Mal gemahnt. Es ist eine feindselige, paranoide Stimmung, die der Filmemacher einfängt, wenn er und die mit den Protagonisten mittorkelnde Kamera sich abwechselnd an die Fersen des mit seinem Moped auf die Pirsch gehenden Scheusal Saeed (Mehdi Bajestani) und der fiktiven Journalistin Rahimi (Zar Amir-Ebrahimi) heftet. Mit geschmeidigen Perspektivwechseln und in flottem Tempo involviert Abbasi die Stadt tief ins Geschehen und stöbert und stochert in jenen abseitigen Ecken und schmutzigen Winkeln herum, über die der Machtapparat den Tschador des Schweigens zu breiten pflegt. Seine Regime- und Gesellschaftskritik webt er dabei durchaus unzweideutig und zwischentonfrei in den atmosphärisch fast beklemmend dichten Krimi-Plot ein. Brachial gnadenlos zerrt er so eine frauenverachtende Doppelmoral an die grünstichigen Lichter der Grossstadt, die einen geradeso schüttelt und schaudert wie die bizarren Bilder, die morbiden Momente, das groteske Grauen und die makabren Magengrubenschläge, mit denen «Holy Spider» nicht eben haushälterisch umgeht.
 
Bestialisch banal
 
Überaus fein gezeichnet sind derweil die beiden Hauptfiguren. Von gleichsam bestialischer Banalität ist der Täter: Kriegsveteran, solider Job als Bauarbeiter, junge hübsche Frau, drei Kinder, die er liebt, und insgesamt eher der melancholische Typ. Aber unter der Oberfläche, da brodelt es in ihm, tobt das Monster; der Magen macht ihm Kummer, weil er «immer so nervös und wütend» ist, wie die Gattin mahnt; Freunden gegenüber klagt und klönt er, wünscht sich den Krieg zurück und sehnt sich nach Märtyrertum; beim Picknick im Park zuckt er kurz aus; Tiraden gegen den Sittenzerfall vermag er nur notdürftig zu unterdrücken; und wenn er gemordet hat, dann ruft er bei der Zeitung an, prahlt und poltert und zetert und erzählt, wo er die Leiche verscharrt hat. Dort, auf der Redaktion, hegt man den Verdacht, dass die Behörden sein Tun zumindest dulden. «Er räumt die Strassen für sie auf. Glaubst du ernsthaft, dass sie ihn aufhalten?», fragt der Journalist Sharifi (Arash Ashtiani) seine aus Teheran angereiste Kollegin Rahimi, eine emanzipierte Kämpferin mit scharfem Blick und spitzer Zunge, die sich von niemandem was sagen lässt, die Zehennägel rot, die Marlboros ebenso. Daheim in der Hauptstadt wurde sie von ihrem Chefredaktor belästigt, und als sie sich dagegen wehrte, da wurde sie gefeuert. Das hat sie geprägt, deshalb ist sie jetzt wohl auch dermassen eifrig bei der Sache. Und vielleicht hat dieser wiederum auf die im Iran so allgegenwärtige Misogynie zielende Background der just deshalb eingebauten fiktiven Figur auch Darstellerin Zar Amir-Ebrahimi so motiviert, dass sie am Ende verdientermassen und sehr zum Missfallen der iranischen Regierung und zahlloser Hassbotschaftenverfasser in Cannes ausgezeichnet wurde. Amir-Ebrahimi, ursprünglich hier bloss als Casting-Direktorin fungierend, kennt sich jedenfalls aus mit dem Hass, der Frauen in ihrer Heimat ins Gesicht schlägt: Vor rund anderthalb Jahrzehnten wurde sie, damals Star einer Fernseh-Seifenoper, mit einem zehnjährigen Berufsverbot belegt, nachdem ein Homevideo von ihr aufgetaucht war, das sie mutmasslich beim Sex mit einem ihrer Produzenten zeigte. Derweil für sie, die kurz nach dem Skandal nach Frankreich floh, «Holy Spider» ein Comeback darstellt, ist es für den graubärtigen Mehdi Bajestani die erste Hauptrolle überhaupt. Seine Figur macht im Laufe der fast zwei Stunden Spieldauer eine erstaunliche Entwicklung durch, die Bajestani meisterhaft begleitet: Wenn der Film im zweiten Teil in ein Justizdrama übergeht, findet der Massenmörder Saeed, beflügelt vom breiten Zuspruch aus der Bevölkerung für seine Schandtaten, auf einmal zu einem sardonischen Selbstvertrauen. Es ist in dieser späten Phase, in der sich der ganze Horror erst richtig Bahn bricht, wenn die wild wütende gottesfürchtige Menschenverachtung gar noch die Gräuel in den Schatten stellt, deren wir zuvor auf so unzimperliche Weise Zeuge wurden. Es ist, als würden diese Frauen noch ein zweites Mal umgebracht, wenn sie als entbehrlicher Abschaum abgekanzelt werden und auf ihr Grab gepisst und gespuckt wird. Doch all das ist noch immer nichts im Vergleich zur so niederschmetternden Schlussszene. Diese lässt einen vollends das Blut in den Adern gefrieren und hat das Zeug, einen des Vertrauens in das Gute im Menschen zu berauben.