von Sandro Danilo Spadini
Man hätte eigentlich vorgewarnt sein müssen. Bereits auf den ersten Metern dieser langen und ereignisreichen Reise namens
«Killers of the Flower
Moon» grunzt deren Protagonist Ernest Burkhart (Leonardo DiCaprio): «Ich liebe Frauen, und zwar aller Art.» Und: «Ich mag Whiskey nicht nur, ich liebe ihn.» Und vor allem: «Ich liebe Geld.
Verdammt, ich liebe Geld.» Und gleichwohl ist man nicht ausreichend vorbereitet auf das, was sich nach der Ankunft dieses Kriegsveteranen in Osage County, Oklahoma, mit stetig eskalierender
Grausamkeit ereignen wird: auf all die Morde an den durch Ölvorkommen reich gewordenen Osage-Indianern, auf diese überschäumende Gier der weissen Eindringlinge, auf diese herz- und seelenlose
Niedertracht von Menschen wie dem Rancher William Hale (Robert De Niro), dem Onkel von Ernest und selbst ernannten «König» von Osage County, allseits beliebt und auch bei den Indianern weithin
hochgeachtet wegen seiner Gottesfürchtigkeit und vermeintlichen Nächstenliebe. Gegen Ende hin, wir sind mitten in der dritten Stunde von Martin Scorseses neustem Wahnsinnswerk und trotzdem noch
ein gutes Stück entfernt vom Finale, ist dann freilich auch Ernest erschrocken über das, was er da mit angerichtet, mit zu verantworten, mit verbrochen hat: was er zuvörderst seiner Gattin Mollie
(Lily Gladstone) angetan hat, einer vermögenden Indianerin von fragiler Konstitution, die bald spürt, dass «mein Herz vom Bösen umgeben ist», und deren Mutter (Tantoo Cardinal) ebenso den Tod
finden wird wie ihre drei Schwestern (Cara Jade Myers, Janae Collins, Jillian Dion), zwei von ihnen ermordet im Auftrag des nur zum Schein quasiheiligen Katholiken William Hale, der einen
regelrechten Massenmord mit mindestens sechzig, womöglich sogar Hunderten Opfern orchestriert hat.
Bad Boys und Indianer
Es ist in «Killers of the Flower Moon» alles da, was einen Film von Martin Scorsese ausmacht, alle seine Lebensthemen sozusagen: die Gewalt und der Verrat; das Historische und das Monumentale;
das Religiöse und das Fanatische; die Schandtaten der Gottlosen und die Sünden Amerikas; Familie und Bruderschaften; Macht und Unterwerfung, das Getriebene und das Durchtriebene; De Niro und
DiCaprio; die Liebe und der Tod – der Tod, der Tod und immer wieder der Tod, herbeigeführt von Halunken mit Herzen so schwarz wie das Öl im Boden, nach dem sie blind und wild vor Habsucht
trachten; von Soziopathen, deren Blutdurst nur noch von ihrem Machthunger übertroffen wird; von Wahnsinnigen, die der Verheissung von Reichtum noch die letzte Menschenwürde opfern, und sei es die
eigene. Der Fantasie von Martin Scorsese, des neben David Lynch nicht nur gewichtigsten, sondern auch amerikanischsten aller lebenden amerikanischen Regisseure, entspringt diese grösser als das
Leben erscheinende und geradeso verfilmte Geschichte indes nicht. Tragischerweise nicht. Denn was hier mit voller Wucht als opulent verschnörkeltes Leinwandwimmelgemälde geschildert wird
– dieses skrupellose Töten im Namen der weissen Vorherrschaft –, hat sich tatsächlich so ereignet in den frühen 1920er-Jahren. Bekannt oder wohl besser: zu wenig bekannt sind die Gräuel als
«Osage-Morde»; neu beleuchtet wurden sie 2017 vom US-Journalisten David Grann im Sachbuch «Killers of the Flower Moon: The Osage Murders and the Birth of the FBI». Dieses hat Scorsese mit
Drehbuchzampano Eric Roth («Forrest Gump», «A Star Is Born») nun derart werkgetreu adaptiert, dass er sein Publikum zwar an den Rand der Überforderung treibt – dass dafür aber die historischen
Fakten, ihr Gewicht und ihre bis ins Jetzt schmerzhaft strahlende Bedeutung nie banalisiert, trivialisiert, simplifiziert werden. Und auch der Ton ist wenn nicht sachlich, so doch weniger
anklagend, als es angesichts der Widerwärtigkeit des Gezeigten zu erwarten wäre, und dadurch am bitteren, noch mit einem regelrechten Coup aufwartenden Ende umso erschütternder, umso lautstärker
nachhallend.
Ein grosser Film über das Töten
Diese Mässigung bedeutet indes nicht, dass sich das Darstellerensemble gross zurückhalten würde. Nachgerade entfesselt agiert dieses vielmehr, angeführt von den drei Leads Leonardo DiCaprio, der
womöglich wirklich nie je so gut war wie hier als dümmlicher Handlanger des Teufels, Robert De Niro, der seit «Cape Fear» nie wieder so böse war, und Lily Gladstone, die eine solch sanftmütige
und zugleich überwältigende Präsenz markiert, dass ihr der Oscar-Gewinn gewiss sein sollte. Wie es sich für ein Werk dieser Grösse, Länge und Weite geziemt, sind aber auch die kleineren Rollen
mit Leuten besetzt, die ihr Handwerk verstehen und für einen Martin Scorsese noch eine Schippe drauflegen: mit dem stets soliden Jesse Plemons als nüchternem FBI-Ermittler etwa, dem Altmeister
John Lithgow als eisernem Staatsanwalt, den Folksängern Sturgill Simpson und Jason Isbell, dem serienerprobten Louis Cancelmi oder auch unbeschriebenen Blättern wie Cara Jade Myers oder Tommy
Schultz; einzig der amtierende Oscar-Preisträger Brendan Fraser schafft es als William Hales Anwalt nicht so recht, seine Spiellust in zweckdienliche Bahnen zu lenken. Von allerhöchstem Rang und
klangvollem Namen sind naturgemäss auch Scorseses übrige Mitstreiter, die wegen der Pandemie notabene unter massiv erschwerten Bedingungen im Grossraum Tulsa, Oklahoma, zaubern mussten: die
83-jährige Cutterin Thelma Schoonmaker, die schon bei «Raging Bull» mit dem Maestro zugange war; der noch nicht ganz so lange im Scorsese-Dream-Team hexende Kameramann Rodrigo Pietro («The Wolf
of Wall Street», «The Irishman»); der eher wählerische Produktionsdesigner Jack Fisk («Mulholland Drive», «The Tree of Life»); oder der im August verstorbene Musiker Robbie Robertson, der mit
seinem gespenstisch simplen Soundtrack manches Unheil ankündet. Und mit all ihnen und über alledem versteht es Martin Scorsese eine auch noch den Ku-Klux-Klan, die Freimaurer und das erst junge
FBI streifende Geschichte von biblischer Tragik, von epochaler Dramatik zu erzählen, die sich im Kern gar nicht so sehr unterscheidet von seinen Gangster-Epen – und Licht auf einen nie
angemessen gesühnten Schandfleck der amerikanischen Geschichte zu werfen, ohne sich dabei je verdächtig zu machen, sich das Leid der Opfer zum eigenen Vorteil aneignen zu wollen. Dieses Licht mag
nicht grell sein; es ist aber erbarmungslos. Und die Botschaft, die Scorsese aussendet, sie ist nicht ohrenbetäubend, aber unüberhörbar. «Killers of the Flower Moon» ist also ein ernster Film, in
dem für wohlfeile Indianer-Folklore ebenso wenig Platz ist wie für Schockeffekte zum profanen Selbstzweck. Ein brutaler Film, der durch Mark und Bein geht und sich nicht so leicht aus den Knochen
schütteln lässt. Es ist das aber auch ein Film, der alles, restlos alles hat, was magisches, was magistrales Kino ausmacht: eine grosse Erzählung, grossartige Figuren, gross aufspielende Stars,
grossflächige Schauplätze, eine überlebensgrosse Inszenierung. Mithin: ein grosser Film. Ein grosser Film über das Töten.