von Sandro Danilo Spadini
Das Böse kommt aus dem Nichts. Tritt plötzlich heraus aus dem Dunkel. Bricht mit nackter Gewalt ein in diese öde Vorstadtidylle mit ihren jaulenden Hunden und miauenden Katzen. Es ist
3.07 Uhr am 12. Oktober des Jahres 2016, einem Mittwoch. Eben hat sich Clara (Lula Cotton-Frapier) von ihrer Busenfreundin (Pauline Serieys) verabschiedet. «Sei vorsichtig», hat ihr Nanie noch
mit auf den Weg gegeben. Aber das war doch nur eine Floskel. Wer denkt sich denn schon etwas Schlimmes in solch einem Moment, an solch einem Ort? Ganz sicher nicht Clara. Die ist gerade in
Hochstimmung. Ja so euphorisiert ist sie und rundum glücklich mit ihrem Leben, dass sie Nanie noch kurz eine Videobotschaft schickt: «Je t’aime – du bist die beste Freundin der Welt.» Und
dann, mitten hinein in diesen Augenblick vollkommener Glückseligkeit, hört sie: «Clara.» Ganz leise. Ganz sanft. So ganz und gar unheimlich und ein Unheil verkündend, dessen Grausamkeit nur noch
von seiner Sinnlosigkeit übertroffen wird. Denn auf einmal steht da eine schwarz gewandete und von einer Skimaske verhüllte Gestalt vor ihr. Spritzt ihr Benzin ins Gesicht. Und zündet sie an. Das
sich gerade in voller Pracht und Blüte entfaltende Leben der Clara Royer – ausgelöscht in einem Akt kaltblütigen Wahnsinns.
Auf Dürrenmatts Spuren
So unfassbar sich das alles anhört – es ist eine wahre Geschichte, die Regisseur Dominik Moll («Harry, un ami qui vous veut du bien») basierend auf einem Sachbuch in seinem mit sechs Césars
prämierten Thriller
«La nuit du 12» erzählt. Zugetragen hat sich die Tat im Mai 2013 in der Pariser Agglomeration; Moll
verfrachtet das mit fiktionalen Elementen angereicherte Geschehen indes nach Grenoble in die französischen Alpen. Und dieser Szeneriewechsel in eine Welt maximaler Normalität – das macht die
Geschichte gerade noch gespenstischer. Wenn am nächsten Tag der bloss wenige Stunden zuvor eingesetzte junge Hauptkommissar Yohan (Bastien Bouillon) mit seinem altgedienten Kollegen Marceau
(Bouli Lanners) noch ziemlich verkatert am Tatort erscheint, dann scheint die Sonne, zwitschern die Vögel, und nichts, aber auch gar nichts deutet in dieser Einfamilienhaussiedlung darauf hin,
dass jemals etwas so Grausiges geschehen, dass das Böse seinen Weg auch hierhin in diesen Winkel der Unschuld finden könnte. Als die Polizisten Claras Mutter (Charline Paul) schliesslich die
Hiobsbotschaft überbringen, ist es denn auch nicht nur Schock, der aus ihr herausbricht, sondern ebenso Ungläubigkeit: «Was erzählen Sie da? Das ist nicht wahr! Sie lügen!», schreit sie in einer
Verzweiflung, wie man sie seit Sarah Palmer in «Twin Peaks» nicht mehr gesehen hat. Und auch der nüchterne, gleichsam geschäftige Umgang der Ermittler vor Ort und die dieser disruptiven Tragödie
gegenübergestellte Banalität – etwa wenn die Frage nach dem Bezahlen der Überstunden aufkommt oder ein Drucker auf dem Präsidium streikt – erzeugen einen irritierenden und in seiner
Lebensechtheit so erschütternden Kontrast: Hier hat ein 21-jähriges Leben jäh sein Ende gefunden, aber dort dreht sich die Welt weiter wie zuvor. Oder zumindest beinahe. Denn in Yohan löst dieses
Verbrechen etwas aus – eine nachgerade zwanghafte Besessenheit, ein unverhandelbares Bedürfnis nach einem Abschluss, ohne den ein wie auch immer geartetes Seelenheil nicht mehr denkbar ist,
ein Versinken in den Fall also, wie es schon vielen Mordermittlern vor ihm widerfahren ist, dem Gerichtsbeamten in «El secreto des sus ojos» etwa und natürlich Dr. Matthäi aus Dürrenmatts
«Versprechen». So verfällt Yohan mitten in der Ankündigung von Claras Tod gegenüber deren Mutter in eine kurze Schockstarre, als er ein Bild an der Wand erblickt, das das Opfer als Kind mit einem
Kätzchen auf dem Arm zeigt. Womöglich sei er das Kätzchen, mutmasst Kollege Marceau, der gerade mit seinen eigenen Dämonen ringt und zunehmend in fatalistische Resignation verfällt. Und womöglich
wird dieser Fall Yohan sein Leben lang nicht wieder loslassen.
Mehr als ein Krimi
Auf ein Happy End oder den herbeigesehnten Abschluss wartet man jedenfalls vergebens. Das hat schon die Einblendung zu Beginn von «La nuit du 12» klargemacht: Von den 800 Mordermittlungen, die
die französische Polizei jährlich einleite, blieben 20 Prozent ungelöst. Dies sei die Geschichte einer solchen Ermittlung. Dabei mangelt es hier an Verdächtigen ganz gewiss nicht. Clara, laut
ihrem Vater fröhlich und intelligent, hatte in den letzten Monaten ihres Lebens – auch das eine Parallele zu «Twin Peaks» – gleich mehrere Affären am Laufen, teils parallel und exklusiv mit
Typen von kauzigem Schlag und zweifelhaftem Charakter: mit einem einfältigen Loser, einem unreifen Trottel, einem eifersüchtigen Möchtegernrapper, einem verpeilten Freak und einem notorischen
Schläger. Sie habe wohl eine Schwäche für «Bad Boys» gehabt, meint Nanie. Doch so dumm und schrecklich die allesamt sind: Als Täter kommt am Ende keiner von ihnen infrage. Wie Moll dieses
Verlaufen der Spuren im Sand minutiös schildert – auch das ist betont unaufgeregt. In sachtem Tempo und sachlichem Ton, aber ohne jegliche Längen hakt er einen Verdächtigen nach dem anderen von
der Liste ab, bis keiner mehr übrig bleibt. Dass nebenher auch noch die privaten Sorgen und Freuden der Ermittler gestreift werden, fühlt sich derweil nur anfangs verzettelt an und offenbart
seinen Sinn zu gegebener Zeit. Und dass Hauptdarsteller Bastien Bouillon nicht so der spektakuläre, ausdrucksstarke Typ ist, passt sowieso ins Bild und wird sich auch noch als Vorzug erweisen.
Seine Präsenz ist zwar präzise und zweckerfüllend, aber nie raumfüllend oder prädominant und lässt so Platz für das Erörtern jener Fragen, die über den eigentlichen Fall hinausreichen und um die
es Moll hier wirklich geht: um das Verhältnis zwischen Mann und Frau. Und konkreter: um das, was Frauen von Männern angetan wird – und auch um die Tatsache, dass sowohl die Täter als auch
jene, die diese überführen sollen, in der Regel Männer sind. Es sind das die Fragen, die im letzten Akt virulent werden, wenn die Ermittlungen längst eingestellt worden sind. Mittlerweile ist
endlich auch eine Kollegin (Mouna Soualem) zu Yohans Team gestossen, eine überaus reflektierte noch dazu; und eine neue Untersuchungsrichterin (Anouk Grinberg) drängt darauf, den Fall
wiederaufzunehmen und Claras Tod nicht auf sich beruhen zu lassen. Bei Yohan stösst sie damit auf offene Ohren. Er ist es denn auch, der den Gedanken weiterspinnt, den Nanie in einem frühen
Stadium der Ermittlungen geäussert hat: dass Clara allein deshalb getötet worden sei, weil sie ein Mädchen gewesen sei. Und der so zum Kern dieser Wahnsinnstat vordringt: Alle Männer in Claras
Leben würden sich als Täter qualifizieren, selbst jene, denen sie gar nie begegnet sei. Denn alle Männer hätten Clara umgebracht. Eine Erkenntnis wie ein Keulenschlag. Und niederschmetternder
fast noch als das unerfüllte Versprechen von Gerechtigkeit und Seelenfrieden, mit dem Moll ohnehin nur kokettiert hat. Sein Film nämlich mag an der Oberfläche aussehen und sich gebärden wie ein
traditioneller Polizeikrimi, er mag einen packen, fesseln und durchschütteln – darunter aber wabert eine Beschäftigung mit Fragen, die sich nicht so einfach zu den Akten legen
lassen.