Die Wölfin hetzt die Meute

In der Netflix-Produktion «The Mother» halten sich Höhe- und Tiefpunkte in etwa die Waage, was sie per saldo zu einer immerhin soliden Sache macht. Das Zeug, Jennifer Lopez der Kinowelt als Actionheldin beliebt zu machen, hat dieser Standardthriller aber nicht.

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Netflix

von Sandro Danilo Spadini

Die gloriose Allison Janney hat es ja vorgemacht: Auch als Mimin im gesetzteren Alter ist es mittlerweile möglich, quasi aus dem Nichts zum schlagkräftigen Racheengel zu mutieren und als nonstop arschkickende Kampfamazone das Actiongenre aufzumischen. Was sie unlängst im Netflix-Thriller «Lou» vollzogen hat, war gleichsam ein feministischer Liam-Neeson-Move. Und wenngleich das Resultat ein pampig plumper Flop war, haben sie sich beim wankenden Streaming-Giganten gedacht: Doch, doch, da haben wir jetzt aber eine flotte neue Nische entdeckt. Oder sie haben sich gar nichts gedacht, und der Algorithmus hat grad auch noch das Denken übernommen in diesem kreativen Kraftwerk im Shutdown-Modus. Weil sie aber schon lange nicht mehr allzu arg beseelt sind von Innovationsdrang und so gar nicht mehr gesegnet sind mit zündenden Ideen bei Netflix, lassen sie nun halt schon wieder ein reifes Teufelsweib von der Leine und hetzen die 53-jährige Jennifer Lopez als tausendsassahafte Todesfee auf eine Meute tollwütiger Waffen- und Kinderhändler. Wenn das mal gut kommt.
 
Heldin ohne Namen
 
Immerhin: Ein bisschen Hoffnung, dass es bei «The Mother» tatsächlich nicht ganz so schal zur Sache gehen könnte, wecken die Entscheidungsträgerinnen in den Schlüsselpositionen. Mit der Neuseeländerin Niki Caro («Whale Rider», «North Country») sitzt hier eine auf dem Regiestuhl, die sich im Gegensatz zu so vielen anderen, die bei Netflix ihr Unwesen treiben, nicht bloss als Content-Managerin versteht, sondern schon mehrfach ihre schöpferische Gabe nachgewiesen hat. Und die Lebensläufe der drei involvierten Skriptverantwortlichen zieren solch grosse Kisten wie «Sons of Anarchy», «Straight Outta Compton», «The Batman», «Top Gun: Maverick» oder «The Town». Gedämpft wird die zarte Hoffnung freilich just auch dadurch: Wenn nämlich gleich drei Personen an einem Drehbuch werkeln, ist das selten ein gutes Omen. Nichtsdestotrotz hat es hier nicht nur die Pre-Title-Sequenz in sich, sondern ist der ganze erste Akt recht knackig geraten: Wir lernen unsere namenlos bleibende und von einem schlabbrigen Hoodie halb verhüllte Heldin (Lopez) in einem Safe House in Indiana kennen. Hier soll und möchte sie eigentlich auch den Wissensdurst des FBI stillen in Bezug auf ihre einstigen Geschäftspartner und Bettgesellen: den früheren britischen SAS-Elitesoldaten Adrian Lovell (Joseph Fiennes) und den mexikanischen Waffenhändler Hector Álvarez (Gael García Bernal) – einer barbarischer als der andere. Doch bevor man sich über einen Deal einig wird, fliegen schon die Fetzen und hagelt es Kugeln. Ihrem Verhörer Cruise (Omari Hardwick) rettet die verhinderte Informantin zwar das Leben, doch insgesamt sieben Bundespolizisten lassen bei der perfid-perfekt orchestrierten Attacke ihr Leben, weshalb das FBI im Nachgang denn auch nicht mehr allzu erpicht ist, ihrem Schutz und Wohlergehen alleroberste Priorität einzuräumen. Und das, obwohl auch die bloss unter «The Mother» firmierende Kampfmaschine und Meisterscharfschützin, die 46 bestätigte Tötungen in Afghanistan in ihrer Vita verbucht, Höllenquallen erlitten hat: Der Unmensch Adrian hat ihr ein Messer in den mächtig gerundeten Bauch gerammt, in dem sich entweder sein oder Hectors ungeborenes Kind befunden hat. Gott sei Dank blieb des Teufels Werk unvollendet und ging der Schlächter zur Strafe in Flammen auf. Das Mutterglück bleibt «The Mother» indes gleichwohl verwehrt. Denn das FBI diktiert ihr knallhart seine Bedingungen: Das im Anschluss an das Massaker in einer Notoperation gesund zur Welt gebrachte Kind kommt in staatliche Obhut – basta! Und es ist wohl auch wirklich zu seinem Besten, das sieht dann auch unsere ramponierte Heldin ein. Ein stabiles, langweiliges Leben wünscht sie ihrem Spross – und stellt dann noch eine für den Fortlauf der Story folgenreiche Bedingung: Wenn es Ärger gibt, will sie subito informiert werden. Und diesen Ärger, den wird es natürlich geben, stattliche zwölf Jahre nachdem sie sich aus dem Staub gemacht und nach Alaska geflüchtet ist. Dass sie so gut mit Waffen umzugehen wisse, könne ihr hier oben prima zupasskommen, hat man ihr gesagt – wegen der Wölfe, die den Farmern das Leben schwer machen. Wölfe zu töten, kommt für «The Mother» freilich nicht infrage. Wahrscheinlich, weil sie sich selbst als einsame Wölfin sieht. Doch mit dieser Einsamkeit ist es vorbei, als Cruise, der sie all die Jahre mit Informationshäppchen gefüttert hat, ihr eröffnet, dass bei einer Razzia in Hectors Umfeld ein Foto ihrer Tochter Zoe (Lucy Paez) gefunden worden sei.
 
Mit Mutter- und Killerinstinkt
 
Zoes Entführung kann «The Mother» zwar nicht mehr verhindern, doch läutet diese jenen verwüstungsreichen Feldzug von Kuba zurück nach Alaska ein, für den wir in erster Linie ja eingeschaltet haben. In dessen Verlauf begegnen wir nicht nur dem widerlichen Andrew wieder, der also doch nicht den verdienten Flammentod gefunden hat; wir nehmen auch erstaunt einige technische Unzulänglichkeiten zur Kenntnis, die man auf diesem Niveau eher nicht so oft sieht, und registrieren eine musikalische Untermalung, deren Mangel an Originalität nachgerade erschütternd ist. Und so wie man «Angel» von Massive Attack – echt jetzt? – schon unzählige Male an ähnlicher Stelle gehört hat, so hat man nahezu alles, was hier nun gesagt und getan wird, bereits mindestens einmal zu oft gesehen. Da hätte man angesichts der vereinigten Meriten des Drehbuchteams nun wirklich etwas mehr Fantasie und Finesse erwartet. Rein gar nichts erwartet hat man derweil von Joseph Fiennes, und er enttäuscht uns nicht: Den diabolischen Bösewicht spielt er in der Tat noch uninspirierter als den Romantiker oder den Abenteurer. Weil zu alledem noch einige Actionszenen kommen, die regelrecht lachhaft sind, und sich die Laufzeit von fast zwei Stunden als vollkommen ungerechtfertigt erweist, könnte das Urteil nun ein vernichtendes sein. Dass es das nicht ist, liegt zum kleineren Teil an Jennifer Lopez; ohne sich allzu nachdrücklich für den vakanten Posten des weiblichen Liam-Neeson-Pendants zu empfehlen, findet sie immerhin eine gute Balance zwischen Mutter- und Killerinstinkt und liefert sich einige schnippische Scharmützel mit ihrem jugendlichen Co-Star, die dem methusalembärtigen Szenario «Bockiger Teenager vs. knorriger Elternteil» den einen oder anderen Schmunzler abknöpfen. Den üppigeren Anteil an dem knapp errungenen Teilerfolg darf indes Niki Caro für sich beanspruchen. Zu manch überaus ansprechendem Panorama- und Stimmungsbild stellt sie sozusagen mit dem Übermut der Verzweiflung immer wieder Feuerwerksequenzen in reinstem Bond-Bravado. Und das reicht eben schon zur Besänftigung. Denn die Ansprüche an Netflix-Produktionen sind inzwischen so tief, dass es fast schon ein Kunststück ist, diese noch zu unterbieten. Aber Kunststücke zu vollführen – das ist nicht das Ding dieses sich mit meist solidem Handwerk begnügenden und nach dem forschen Beginn auf Altbewährtes setzenden Standardthrillers.