von Sandro Danilo Spadini
«Die Welt nimmt, was sie will», sinniert die lebensmüde Iris (Kelsey Asbille), Zentimeter vom Klippenrand entfernt stehend, gramgebeugt wegen des Verlusts ihres kleinen Jungen, der
daselbst vor einigen Monaten in den Tod gestürzt ist. Doch die Welt, sie ist nicht die Einzige, die so unbarmherzig vorgeht, wenn es um die Befriedigung ihres Begehrs geht. Auch Richard (Finn
Wittrock), dieser fesche Fremde, zu dem Iris in diesem Moment in aller Herrgottsfrüh, «wo noch nicht einmal die Bären wach sind», spricht, ist einer, der sich nimmt, was er will – vorzugsweise
junge Frauen, die er überwältigt, betäubt, verschleppt und, nach ein wenig «Spass», umbringt. Jetzt aber, in diesem Moment tiefster Düsternis für Iris, gibt sich der Serienkiller, der aus dem
Wald kam, einfühlsam: Auch er habe einen herben Verlust erlitten; die Liebste habe ihr Leben gelassen in einem Autounfall, an dem er Schuld getragen habe. Er sei aber schliesslich darüber
hinweggekommen und wisse daher: Es gebe immer Hoffnung. Aber sie abbringen von ihrem Todeswunsch. das wolle er nicht. Er finde bloss: «Es ist wirklich ein wunderschöner Tag.» Sagts und zieht
davon dannen – in der Hoffnung, Iris möge ihm folgen. Und das tut sie dann auch – und bekommt von Richard, der sich fürderhin Andrew nennen wird, auf dem Parkplatz des Massey Big Sur State Park
eine Injektion verpasst, deren Inhalt ihren Körper innerhalb von 20 Minuten vollständig herunterfahren wird; sogar das Sprechen wird ihr dann einstweilen unmöglich sein. Es ist das der
Startschuss zu einem Katz-und-Maus-Spiel der ganz perfiden Sorte. Und die erste Stufe eines Plans, wie er teuflischer nicht sein könnte: Richard oder eben Andrew, der Irre mit dem Gotteskomplex,
hat Iris der Gier der Welt und den Klauen des Todes entrissen, weil er sie für sich selbst will. Aber ob das alles auch so aufgeht, wie er sich das vorstellt – das ist dann fraglich. Denn in
der mit (fake) Schweizer Taschenmesser ausgerüsteten Iris erwachen nun plötzlich die Lebensgeister und Superkräfte, und mir nichts, dir nichts wechselt sie vom Suizid-Mood in den
Survival-Modus.
Budgetbewusst, aber einfallsreich
Es ist ein fieser kleiner Thriller, den Netflix mit
«Don’t Move» da serviert – einer, dem man sein Budgetbewusstsein bisweilen sehr wohl ansieht, der mit
einem kleinformatigen Zeitrahmen und einer Mikrobesetzung auskommen muss und der nicht wie suggeriert in Kalifornien, sondern in Bulgarien gedreht wurde. Was die Regisseure Brian Netto und Adam
Schindler mit diesen schmalen Ressourcen angestellt haben, ist freilich aller Ehren wert. Mit dem Spannungsaufbau tun sich die beiden nach dem schnörkellosen Auftakt zunächst zwar ein wenig
schwer; für einen Moment schaut es so aus, als sei mit Iris auch ihr Film gleichsam paralysiert. Doch mit dem nächsten Psychospielchen und der ersten grösseren Eskalation nimmt er wieder Fahrt
auf. Und wenn dann auch noch dezent am persönlichen Background des Killers gearbeitet wird, werden die Dinge nochmals interessanter, als sie konzeptbedingt ohnehin schon sind. Seinen primären
Reiz bezieht dieses an Robert Zemeckis Thriller «What Lies Beneath» (2000) gemahnende Konzept mit dem zur fast vollständigen Wehrlosigkeit verdammten Opfer daraus, dass dadurch einige Spielregeln
des Genres ausgehebelt und so potenziell brenzlige Situationen zugunsten des Täters entschärft werden. Was sodann umso prickelnder wird, ist die Frage, zu welch unorthodoxen Mitteln und
ausgefuchsten Methoden Iris in ihrem Überlebenskampf jetzt greifen wird. Und auch hier enttäuscht «Don’t Move» nicht, weil sowohl das Autorenduo T.J. Cimfel und David White als auch das Regieduo
Brian Netto und Adam Schindler, die sich allesamt vom Horrorfilm «Intruders» (2013) her kennen, mit solidem, wenn nicht grundsolidem Einfallsreichtum aufwarten, garniert zudem mit ein, zwei
Kameraschmankerl und weitwinkligen Prachtaufnahmen der imposanten Naturkulisse.
Charismatischer Psychopath
Mit dem Aufrechterhalten des Spannungslevels bekundet der von Horror-Ikone Sam Raimi («The Evil Dead») produzierte Film zwar weiterhin immer wieder gewisse Schwierigkeiten. Letztlich bleibt es
aber doch stets hoch genug, damit das Interesse nicht verloren geht. Und wenn es dafür auch einmal ein bisschen ruppiger zu- und hergehen muss, ist das völlig in Ordnung: So eine wohldosiert
eingesetzte Gewalteruption ist nach den ganzen Übungen in maximaler Zurückhaltung und vornehmem Minimalismus durchaus willkommen. Mit seinen nur gerade rund 85 Minuten Laufzeit strapaziert «Don’t
Move» überdies auch nicht unsere Gastfreundschaft. Denn Netto und Schindler wissen sehr genau, wann sie ihr Blatt ausgereizt haben, und sehen dankenswerterweise davon ab, eine überflüssige
repetitive Extrarunde zu drehen. Wobei: Immerhin einem der Stars hätte man gerne noch etwas länger zugeschaut. Kelsey Asbille, die Monica Dutton aus der Westernserie «Yellowstone», ist das nicht.
Sie hat von den beiden fraglos die anspruchsvollere Aufgabe, zumal sie die meiste Zeit halb betäubt und entsprechend limitiert in ihrem Agieren ist. Zudem ist der Spagat zwischen Kampfgeist und
Verletzlichkeit, zwischen Überlebenswillen und Lebensmüdigkeit auch kein einfacher. Und tatsächlich ist es leider kein Spektakel, was sie da vollführt. Knackiger ist derweil die Gratwanderung,
die Finn Wittrock («Luckiest Girl Alive») zu bewältigen hat: Sein stilsicheres Navigieren zwischen Grotesk-Psychopathischem und Charmant-Durchtriebenem jedenfalls darf als Bewerbungsschreiben für
die Hauptrolle des Patrick Bateman in Luca Gaudagninos geplantem «American Psycho»-Remake eingeordnet werden. Und auch wenn dafür solche (Shooting-)Stars wie Robert Pattinson, Austin Butler, Tom
Holland, Kieran Culkin und Jacob Elordi im Rennen sind: Gänzlich chancenlos sollte Wittrock nach diesem Auftritt nicht sein.