Des einen Leid und des anderen Leid

In dem freudlos verdriesslichen Drama «Memory» wägt der mexikanische Regiehasardeur Michel Franco die Last der Erinnerung gegen das Leid durch ihren Verlust ab. Was er um dieses Thema herum konstruiert, wirkt freilich weder natürlich noch nachvollziehbar und ist in seinen schlimmsten Momenten bloss grobschlächtig und ausbeuterisch.

Zar Amir-Ebrahimi im Film Holy Spider

Filmcoopi

von Sandro Danilo Spadini

Die Mutter hat ihr damals nicht geglaubt und sie ein Flittchen geschimpft. Sie hat dann das Vergessen im Alkohol gesucht und nicht gefunden. Ist trocken geworden und hat sich ihren Dämonen gestellt. Und heute geht es ihr so weit gut. So gut es einem eben gehen kann nach so etwas. Jetzt aber ist das alles gerade wieder sehr nah. Sehr real. Sehr hart. Denn jetzt sitzt einer von denen ihr gegenüber – einer von den Mistkerlen, die sie damals in der Highschool in der Gruppe vergewaltigt haben. Kein Wunder und erst recht keine Schande ist es da, dass Sylvia (Jessica Chastain) jetzt noch vergrämter wirkt als sonst und nur noch wegwill ­– weg von dieser Klassenzusammenkunft, an die sie ihre Schwester (Merritt Wever) geschleppt hat. Auch wenn es ein Entkommen natürlich nicht geben kann. Nicht vor Saul (Peter Sarsgaard), der sich so plump und tumb zu ihr gesetzt hat, ihr nach ihrem überstürzten Aufbruch zur U-Bahn gefolgt ist und nun im strömenden Regen draussen auf der Strasse vor ihrer Wohnung der Dinge harrt. Und schon gar nicht vor der Erinnerung, die jetzt wieder bleischwer auf ihr lastet und sie auf den Boden der traurigen Tatsachen drückt. Also stellt sie sich. Abermals. Geht raus. Und nimmt sich des völlig durchnässten und offensichtlich desorientierten Saul an. Wie sich weisen wird, leidet der Endvierziger an Demenz – seine Erinnerung an die Tat, die Sylvias Leben für immer verändert hat, ist verschwunden, ist ausgelöscht und kehrt auch nicht wieder, als sie ihn konfrontiert. Der Frust, den Sylvia darob empfindet, ist jedoch nicht von Dauer; vielmehr entschliesst sie sich nach kurzer Bedenkzeit, das Angebot von Sauls wohlhabendem Bruder (Josh Charles) anzunehmen und sich fortan neben ihrem Job als Sozialarbeiterin auch noch um das Wohlergehen ihres einstigen Peinigers zu kümmern. Doch das ist nicht die letzte verblüffende Wendung in diesem Drama: Wider jede Erwartung und alle Umstände verlieben sich die beiden ineinander und lassen sich auf eine Beziehung ein.
 
Wenig Chemie zwischen den Stars
 
Nicht nur die Wege des Herrn, auch jene der Liebe sind bekanntlich unergründlich. Und so sind es denn auch nicht so sehr die Irrungen und Wirrungen des Herzens, die das Drama «Memory» des mexikanischen Regiehasardeurs Michel Franco zu einer solch konstruierten Angelegenheit machen. Es ist vielmehr die nicht aufgehende Summe, die sich ergibt aus den wenig nachvollziehbaren Volten der Handlung, einer Reihe Ungereimtheiten eher profaner praktischer Natur und dem Zusammenspiel zweier Stars, die individuell zwar durchaus zu glänzen vermögen, aber letzten Endes nicht so recht wissen, was sie miteinander anstellen sollen. Entsprechend schwer fällt es, der für ihre hohen Ansprüche bloss soliden, wenn auch sehr präsenten Jessica Chastain und dem für seine bescheideneren Verhältnisse stupenden, wenn auch gewohnt schläfrigen Peter Sarsgaard abzukaufen, dass ihre Figuren die sie trennenden Gräben – die biografischen wie die charakterlichen – endlich überbrücken: Es bleibt das so nicht nur ein unwahrscheinliches, sondern mit der schroffen Sylvia und dem sanften Saul auch ein ungleiches Paar, das einzig von seinen Traumata zusammengehalten wird und so recht eigentlich zur Schicksalsgemeinschaft schrumpft. Zur herzerwärmenden Romanze taugt das nicht, zum herzzerreissenden Liebesdrama auch nicht. Und nur als Konzept spannend bleibt die gegensätzliche Beziehung der beiden zur titelgebenden Erinnerung: Dass sie vergessen will und er gegen das Vergessen kämpft, die Last der Erinnerung und das Leid durch ihren Verlust ­– daraus hätte man mehr machen können.
 
Am Schluss noch der Zweihänder
 
Dass Michel Franco («Sundown», «First Order»), der auch das Skript beigesteuert hat, eben nicht mehr aus dieser Konstellation macht, überrascht indes nur bedingt. Der Mann hat zwar Freunde in cineastisch besseren Kreisen; gleichwohl hat man bei ihm zu oft das Gefühl, dass hinter all den tragischen Turbulenzen nicht gar so viel steckt und es aus diesem Tränenmeer aus Tod und Pein, Missbrauch und Gebrechen kaum Profundes herauszufischen gibt. Nicht nehmen lassen wollte es sich Franco derweil, wie stets auch noch ein bisschen Klassenkampf einzubauen, wofür er einige ohnehin holzschnittartige Nebenfiguren zu baren Prügelknaben degradiert, namentlich Sauls Bruder und Sylvias Mutter (Jessica Harper). Das zeugt nicht nur von einem Defizit an Fokus, sondern einmal mehr auch von einem Mangel an Reife. Es bliebe dies wie so vieles hier wohl eine lässliche Sünde, würde er in den wirklich entscheidenden Momenten seines adäquat in ein verdriessliches Ambiente eingebetteten und in freudlose Herbsttöne gekleideten Films Augenmass beweisen. Doch wie er es nun mal gern macht, packt er im Schlussakt den emotionalen Zweihänder aus und hämmert Sylvias Schmerz auf eine Art in uns rein, die man nur als grobschlächtig und regelrecht ausbeuterisch bezeichnen kann. Anstatt ihr Mitgefühl angedeihen zu lassen, macht er ein Spektakel aus dem Drama, das sich ihr Leben nennt. Und das ist dann eben nicht mehr lässlich. Das ist unverzeihlich.