Mutter Karambolage

Die Romanadaption «Mother’s Instinct» hat keinen restlos klaren Plan, ob sie lieber Film noir oder doch Melodram sein möchte – dafür deliziöses Augenfutter und zwei formidable Hauptdarstellerinnen, die den Schlingerkurs des Drehbuchs mehr als nur kompensieren.

Zar Amir-Ebrahimi im Film Holy Spider

Ascot Elite

von Sandro Danilo Spadini

Es ist Idylle pur, was wir in der Auftaktsequenz des Film-noir-Melodrams «Mothers’ Instinct» auf dem Silbertablett serviert bekommen – oder zumindest das, was man sich im Jahr 1960 in den amerikanischen Vorstädten darunter vorgestellt hat: Die Dinge des perfekten Daseins sind hübsch gebüschelt, frisch gestrichen, nett hergerichtet, adrett herausgeputzt, blank poliert, akkurat sortiert, makellos frisiert und prächtig ausstaffiert – ein Leben wie aus dem Hochglanzkatalog, dem schönen Schein nach jedenfalls. Gar alles indes ist hier wohl doch nicht in Butter, schwant uns bald; etwas muss im Busch sein. Denn wiewohl diese Oberfläche tatsächlich keinerlei Kratzer hat: Darunter gärt etwas Ungutes. Und daran ändert sich auch nichts, wenn sich die erste Aufregung, die uns Regisseur Benoît Delhomme in seinem Debüt beschert, in wohlige Sommerluft auflöst: wenn das Mysterium, das die von ihm eigenhändig bediente Kamera und der Hitchcock heraufbeschwörende Soundtrack aufgebauscht haben, in einer Überraschungs-Geburtstagsparty gipfelt und die beiden Hausfrauen Celine (Anne Hathaway) und Alice (Jessica Chastain) mit ihren Gatten (Josh Charles und Anders Danielsen Lie) und den beiden achtjährigen Söhnen in der Glückseligkeit der ausklingenden Fünfziger schwelgen und sich ein, zwei unbeschwerten Drinks und zehn, zwanzig unschuldigen Zigaretten hingeben. Schon am nächsten Tag aber – die Mai Tais sind trotz spätnächtlichen Schäferstündchens noch nicht vollständig herausgeschwitzt, die Männer gleichwohl im Büro, die Frauen derweil bei der Haus- und Gartenarbeit –, bereits am folgenden sonnigen Morgen also schlägt das Schicksal zu: mit voller Wucht und auf grausamste Weise. Doch damit nicht genug, natürlich nicht genug, der Film ist da schliesslich erst eine knappe Viertelstunde alt: Im Nachgang der alles über den Haufen werfenden Tragödie weist sich bald, dass der wahre Horror erst noch kommen wird ­– und der wird auch den Wahnsinn im Schlepptau haben.
 
Formvollendetes Set- und Kostümdesign
 
Die Film-noir-Attitüde hat «Mothers’ Instinct» mithin schon von Anfang an; bis auch das auf Barbara Abels Roman «Derrière la haine» (2012) und dessen Verfilmung «Duelles» (2018) von Olivier Masset-Depasse beruhende Skript sich dazu entschliesst, so etwas wie ein Thriller zu werden, dauert es hingegen noch ein Weilchen. Es ist das ein wenig ein Schlingerkurs, der hier gefahren wird: ein Melodram in einem noirigen Kleid sozusagen. Ein Unglück ist das per se freilich noch nicht; einigermassen füglich liesse sich über Alfred Hitchcocks «Vertigo» Ähnliches sagen, und das ist nach landläufiger Lehrmeinung der beste Film, der je gedreht wurde. Das Problem, das sich am Ende als Problemchen entpuppen wird, ist, dass Regisseur Delhomme einen anderen Film im Kopf zu haben schien, als das Drehbuch ihm vorgelegt hatte. Dem 62-jährigen Franzosen, der als Kameramann mit kunstaffinen Filmemachern wie Mike Figgis, Michael Winterbottom, Julian Schnabel oder Anton Corbijn arbeitete, ist hier von den Kostümen über die Ausstattung bis zu den Sets nicht nur am Formvollendeten und dessen wohlkomponierter Inszenierung gelegen; er hat auch einen Narren gefressen am Modus operandi der Krimis der Vierziger- und Fünfzigerjahre und lässt seine Stars denn auch diesen gemäss agieren. Diese tun zwar ihr Möglichstes, die Diskrepanz von Form und Inhalt in einem halbwegs erträglichen oder gar noch fruchtbaren Rahmen zu halten; und ihnen ist es zuvörderst zu verdanken, dass der Film nie in die Lächerlichkeit abgleitet. Nichtsdestotrotz lässt sich nicht wegschmunzeln, dass der routinierte Kameramann Delhomme weit patentere Arbeit abliefert als der unerfahrene Regisseur Delhomme, der ohnedies bloss eingesprungen ist für den eher kurzfristig verhinderten Olivier Masset-Depasse, den Regisseur des Originals.
 
Knapper Vorteil für Chastain
 
TV-Mann Josh Charles («The Good Wife») und der Norweger Anders Danielsen Lie («The Worst Person in the World»), vor allen Dingen aber die gerade sehr umtriebigen Oscar-Preisträgerinnen Anne Hathaway und Jessica Chastain sind es auch, die für jene Dynamik sorgen, die für das Wohl und Wehe des Films essenziell ist, für die das Drehbuch aber nur wenig Argumente liefert. Das (zwischenmenschliche) Geschehen wild und wilder eskalieren und die titelgebenden mütterlichen Instinkte gänzlich ausser Kontrolle geraten zu lassen: Das erledigen Chastain, die ebenso wie Charles derzeit auch im Drama «Memory» zu sehen ist, und Hathaway, die mit dem Horrorfilm «Eileen», der Tragikomödie «She Came to Me» und dem Liebesfilm «The Idea of You» zuletzt auf ziemlich vielen und verschiedenartigen Hochzeiten getanzt hat, praktisch im Alleingang. Der Ausgang des Duells der Mütter, die so viel spüren, bis sie sich selbst nicht mehr spüren, wird selbstredend nicht verraten; jenes der Darstellerinnen aber entscheidet Chastain für sich, haarscharf indes nur, in der Verlängerung quasi oder im Elfmeterschiessen vielleicht. «Ich bin eine schreckliche Mutter», sagt ihre Alice zu Beginn, als alles noch in Ordnung ist in dieser vermeintlichen Postkartenwelt. «Du bist eine wundervolle Mutter», entgegnet Hathaways Celine darauf. «Und eine wundervolle Freundin.» Es ist das eine Szene, die die beiden Figuren und auch ihre Darstellerinnen recht gut fasst: hier die dem Dramatischen zugeneigte Alice, die so gerne wieder als Journalistin arbeiten würde (was ihr Mann tatsächlich mit dem Vorschlag erwidert, dann könne sie doch mal etwas für die Schülerzeitung schreiben) – da die selbst in der Trauer noch überaus beherrschte Celine, die sich einfach ein zweites Kind wünscht, das ihr aber aus medizinischen Gründen verwehrt bleiben wird. Die sich im Laufe der nur 90 Minuten Spielzeit mehr und mehr zeigenden Risse in der Fassade zu kaschieren und die sich immer weiter öffnenden psychischen Abgründe zu verschleiern, gelingt Alice und Celine denn auch unterschiedlich gut. Die jeweilige Strategie umzusetzen, verstehen derweil beide Stars in gleich adäquatem Masse – nur dass Chastain halt etwas spannendere (und spektakulärere) Sachen tun darf und in dem beklemmenden, nachgerade erstickenden Ambiente auch mal ungeniert und ungestraft «over the top» gehen kann. Das mag dann zwar bisweilen wie aus der Zeit gefallen wirken und besser in jene Ära passen, in der der Film spielt; es ist das aber auch Ausdruck des grossen Verdiensts von «Mothers’ Instinct»: dass da jemand den Mut und den Willen hat, ein Filmemachen zu zelebrieren, das so völlig ausser Mode gekommen ist. Einem Kino zu huldigen, das sich nicht vorsorglich in wohlfeile Ironie flüchtet und augenzwinkernd zu verstehen gibt, dass es sich selbst dann schon nicht so ernst nimmt – das stattdessen auf tutti geht und sehenden Auges in Kauf nimmt, in seinem Hang zur verschwenderisch-überschäumenden «Larger than life»-Geste als so was von gestrig abgekanzelt zu werden.