Die Ruhe nach dem Sturm – die Flut nach der Ebbe

Harte, aber nie je zähe Kost: Das Suchtdrama «The Outrun» ist dank seines mäandernden Erzählstils und der authentischen Hauptdarstellerin eine nachgerade immersive Erfahrung – und ein audiovisuelles Erlebnis.

Zar Amir-Ebrahimi im Film Holy Spider

Filmcoopi

von Sandro Danilo Spadini

Rau, windig, unwirtlich ist es da. Grau, lärmig, ungastlich dort. Und weder da noch dort, weder auf den schottischen Orkney-Inseln noch in London, passt Rona (Saoirse Ronan) so richtig rein, beiderorts tut sich die 29-jährige arbeitslose Biologin schwer. Draussen in der Natur, ob bei der frömmelnden Mutter (Saskia Reeves) oder dem bipolaren Vater (Stephen Dillane), muss sie erst wieder zurück zu ihren Wurzeln finden. In der grossstädtischen Wüste, mit dem ihrer überdrüssig gewordenen Partner (Paapa Essiedu) und den falschen Freunden, hat sie sich verloren und ist dem Suff verfallen. So schlimm ist es schliesslich geworden, dass sie sich nach einer nur knapp verhinderten Vergewaltigung selbst in die Reha eincheckt: Man solle sie einsperren, sagt sie, die Stimme zittrig, das Auge geschwollen, der Blick leer. Und nach dem erfolgreichen Entzug geht der Kampf sowieso weiter: nun eben oben in ihrer alten Heimat, der sie vor zehn Jahren den Rücken gekehrt hat und wo sie mittlerweile kaum mehr jemanden kennt ausser den Eltern. Hier nun heuert sie bei der Vogelschutzbehörde an, um die Orkney-Inseln nach Wachtelkönigen abzusuchen. Es ist das aber selbstredend nicht die vordringlichste Suche in ihrem quasi auf null zurückgestellten Leben: Was sie erst einmal finden muss, ist sich selbst, einen neuen Sinn, einen passenden Rahmen, einen stimmigen Rhythmus. Und wo könnte sie das besser tun als in diesem mystischen Ambiente. Bisweilen könne man eine Vibration spüren hier, sagt Rona einmal im Off, aus dem sie im Malick-Stil immer wieder ihre meditativen philosophischen Gedanken und naturwissenschaftlichen Beobachtungen teilt. «Ein schwaches Grummeln. Ein Zittern. Es vereinnahmt die ganze Insel und jeden Teil deines Körpers. Aber klar, das könnte alles auch nur in deinem Kopf sein.»  
 
Zwischen Exzess und Kontemplation
 
Unsentimental und unzimperlich ist es, was Nora Fingscheidt im Suchtdrama «The Outrun» aus den gleichnamigen Memoiren von Amy Liptrot gemacht hat. Und ähnlich vollgestopft und ambitioniert wie ihr englischsprachiges Debüt «The Unforgivable» vor drei Jahren. Der schwer zu bändige Gestaltungswillen der 41-jährigen Deutschen gilt diesmal freilich weniger dem Thematischen, wo der Fokus meist scharf gestellt ist, als der mit historischen Schnipseln und Comic-Clips angereicherten Bildsprache, dem wankelmütigen Ton und der wilden Erzählstruktur. Eitler Selbstzweck ist das indes nicht, willkürlich schon gar nicht. Vielmehr ist das eine Einladung zu einer gleichsam immersiven Erfahrung – Fingscheidt will, dass wir mitkommen auf Ronas Höllenritt und Horrortrip, auf diese wackelige Gratwanderung zwischen Euphorie und Tristesse, Exzess und Kontemplation. Und so springt ihr nonlinear erzählter Film hin und her, schwappt rauf und runter, torkelt, taumelt, trippelt mit dem Getöse, aus dem Rona ausbrechen will, und tänzelt mit den Elementen, mit denen sie sich synchronisieren, eins werden will. Da rattern die Motoren und brechen die Wellen, pumpt der Beat im Club und heulen die Robben im Meer, rattert die Blechlawine und rauscht der Wind, wuselt der Grossstadtdschungel und ruht das Land, wirbeln die Sinne und schweifen die Gedanken, bebt das Leben und pausiert das Leben. Und Rona rennt, und Rona rast, und Rona rauft, und Rona rotzt, und Rona rauscht, und Rona röchelt – und Rona ringt, und Rona rudert, und Rona reift, und Rona raffts, und Rona reisst sich am Riemen, und Rona ringt die Dämonen nieder. Und endlich: Rona ruht. Aber ob sich Rona auch rettet? Wir hoffen es sehr.
 
Fast alle Klischees umschifft
 
Dass man sich am Ende der fast zwei Stunden von «The Outrun» derart kümmert um diese Rona und dermassen involviert ist in ihr Leben – das ist gar nicht selbstverständlich und war auch nicht unbedingt abzusehen. Denn die Einladung, die Fingscheidt da verschickt hat, die hat man nur zögerlich angenommen, und man war sich während der ersten Takte dieser vermeintlichen Kakofonie nicht restlos sicher, ob man es nicht noch bereuen würde, sich darauf eingelassen zu haben. Es mangelte da der Protagonistin lange an Background, um das alles einordnen zu können, und es haperte auch mit dem Verständnis – die Zeitsprünge irritierten, die tonalen Verschiebungen rissen uns immer wieder aus dem Fluss heraus, das Hoch- und Runterschrauben der Lautstärke rüttelte uns durch. Wie die Heldin mussten halt auch wir erst einmal den Rhythmus finden, mussten uns an diese so schlüssig mit Ronas Gefühlswelt in Einklang stehende Inszenierung gewöhnen, uns der Melancholie hingeben, uns einlassen auf diese harte, aber nie je zähe Kost. Dass Fingscheidt es einem nicht einfach machen will – das ist nur folgerichtig. Zwar geht nicht ganz alles so auf, wie sie sich es erhofft hat – aber das meiste und vor allem das Wichtige. Auch die dezente Überlänge, mit der sie schon in «The Unforgivable» zu kämpfen hatte, ist verschmerzbar angesichts der beinahe nonstop auf uns einprasselnden audiovisuellen Wucht und des nicht geringen Verdiensts, dass der nie rührselige Film so gut wie jedes Suchtdrama-Klischee umschifft und sich auch mal in wohltuender Zurückhaltung übt. Eine solche Selbstbeherrschung lässt auch Saoirse Ronan («Brooklyn») walten. Für sie ist die Rolle der Rona natürlich eine Gelegenheit zur Profilierung, zur Zementierung ihres Status als eine der Grössten ihrer Generation. Längst dem Talentstadium entwachsen, ist sie smart und souverän genug, der Versuchung zu widerstehen, in mimische Kraftmeierei zu verfallen und ihr Blatt auszureizen. Was wir von ihr bekommen, ist immer authentisch, ist vereinnahmend und eine Meisterleistung reinsten Wassers. Sie ist der Fels in der Brandung, der Anker dieses so unsteten Films. Und es ist eben auch eine immersive Erfahrung, ihr dabei zuzusehen, wie es für Rona allmählich zwar nicht einfach wird, aber weniger hart. Da sitzt sie wieder in der Bucht mit ihren Selbstgedrehten, und wir realisieren, dass ihr Blick nicht mehr starr, sondern fokussiert ist. Und dann, endlich: ein Lächeln. Zuversicht. Frieden. Erlösung. Auch für uns. Und für den Film, der wie sein Star stets mit beiden Beinen auf dem Boden stand – und der nun ebenfalls zur Ruhe kommt.