von Sandro Danilo Spadini
Dem abgrundtief Bösen eine gleichsam höhnische Banalität gegenüberzustellen, ist seit je ein probates Mittel, das Grauen heraufzubeschwören, den Schrecken spürbar zu machen. Es jagt
einem denn auch einen gehörigen Schauer über den Rücken, wenn Regisseur Jonathan Glazer («Birth», «Under the Skin») in seinem für fünf Oscars nominierten Drama
«The
Zone of Interest» vorführt, wie Obersturmbannführer Rudolf Höss (Christian Friedel; «Das weisse Band», «Babylon Berlin») und seine Ingenieure in unsäglich nüchternem Ton und bornierter
technischer Detailpassion die Mechanismen der Massenvernichtung in Auschwitz erörtern. Es schüttelt einen durch, wenn deren Gattinnen derweil hinten in der Küche schamlos über Kleider und Schmuck
von deportierten Jüdinnen tratschen, die sie sich unter den Nagel gerissen haben. Und es fährt einem in die Glieder, wenn in Strategiesitzungen in Berlin die Bürokratie der Barbarei ihre blasse
Fratze zeigt. Freilich: Man sieht das nicht zum ersten Mal, leider. Das Grauen hält entsprechend nicht mehr ganz so lange an, wie es das sollte; der Schrecken hallt nicht mehr so laut nach, wie
er es tun müsste. Und im Wissen darum und auf der Suche nach einem neuen Zugang zum Jahrhundertthema Auschwitz beschreitet Glazer, der auch für das Skript zeichnet, in «The Zone of Interest»
einen gänzlich neuen und ziemlich ungewöhnlichen Weg – beziehungsweise beschritt sein im Vorjahr verstorbener britischer Landsmann Martin Amis diesen, ein Meister der «Neuen
Widerwärtigkeit», wie die «New York Times» einst schrieb. Wobei Glazer sich bei der Adaption von dessen im Jahr 2014 erschienenem Werk maximale Freiheiten herausnahm und quasi nur das
Grundgerippe übernahm: das Leben (und auch ein bisschen das Lieben) von Auschwitz-Lagerkommandant Rudolf Höss mit seiner Gemahlin Hedwig (Sandra Hüller; «Toni Erdmann», «Anatomie d’une chute»)
und den fünf Sprösslingen auf einem üppigen Areal, das direkt an die Mauern des Konzentrationslagers grenzt – samt schnuckeligem Pool, prächtigen Blumenbeeten, deutsch gründlich gepflegtem
Gemüsegarten, resistenten Reben, schmuckem Gewächshaus; und ein Hundilein ist auch da, das frohgemut herumtollt. Im Hintergrund: das Sterben der Anderen.
Den Ausnahmezustand ausblenden
Das Jahr ist 1943, die Sprache ist – Gott sei Dank – Deutsch (Letzteres erklärt, warum diese englische Produktion nicht nur in der Hauptkategorie, sondern auch für den Ausland-Oscar
nominiert ist). Am Anfang steht eine schwarze Leinwand, untermalt von Dröhnen, industriell, monoton, bedrohlich. Dann jedoch: Vogelgezwitscher. Und: eine in Weiss gekleidete Familie am Fluss.
Harmonie. Heiterkeit. Heile Welt. Die Frau hält einen Säugling im Arm, der Mann blickt zufrieden und versonnen übers Wasser. Dann der Heimweg im Grünen. Unberührte Natur. Und am Abend: zirpen die
Grillen. Was hingegen so gar nicht in dieses Idyll passt, ist das mechanische Rattern und Brummen, das von jenseits der Mauern laut und unablässig herüberdringt – unüberhörbar eigentlich,
und doch wird es offenbar von niemandem (mehr) wahrgenommen; von niemandem in Verbindung gebracht mit jenem Ungeheuerlichen, das dort drüben vor sich geht: mit der akribischen Auslöschung. Denn
die Geschichte der Familie Höss, das ist die Geschichte von Menschen, die inmitten von namenlosem Leid sorglos ihrer Wege gehen, die dabei problemlos funktionieren, der Dinge harren, taub und
blind für das, was um sie herum geschieht, unerschüttert in ihrem Glauben an das Schlechte, die einfach weitermachen – von Menschen also, die den Ausnahmezustand ausblenden. Es ist insofern
nur folgerichtig, dass hier auch alles überaus geordnet, alles so furchtbar aufgeräumt, flott herausgeputzt ist. Ja bisweilen erinnert dieses akkurat arrangierte Eigenheim-Träumchen an die
puppenhaushaften Welten von Wes Anderson, abzüglich der putzigen Farben notabene. Und wie dort leben auch die Protagonisten hier in einer Blase, in einem Vakuum, das indes nur scheinbar nichts
mit der Realität zu tun hat. Wie entrückt dieser zutiefst gespenstische Unort und die Menschen in ihm sind, kommt auf besonders perfide Weise zum Ausdruck, wenn Hedwigs Mutter (Imogen Kogge) zu
Besuch ist: wie da geschwärmt wird – «da bist du aber wirklich auf die Füsse gefallen» –; wie da geprahlt wird – «Rudolf nennt mich Königin von Auschwitz» –; wie da geklönt wird – «der
Rudolf steht unter einem Druck, das kannst du dir nicht vorstellen». Und bei alledem als Rauschen im Hintergrund: Schreie und Schüsse.
Kein Sonnenstrahl im «Interessengebiet»
Das Entrückte, gleichsam von der Realität Abgekapselte wird aber auch formal transportiert, von einer statischen Kamera (Lukasz Zal; «Ida»), die die meiste Zeit auf Distanz bleibt zu den Figuren,
einen Sicherheitsabstand zu ihnen wahrt, wenn man so will – auf dass wir erst gar nicht in Versuchung geführt werden, die Täterperspektive einzunehmen. Geradeso effektvoll ist das Spiel mit dem
Licht, das Regisseur Glazer betreibt. Wiewohl das meiste bei helllichtem Tag abläuft, vermögen die Sonnenstrahlen irgendwie nie durchzudringen in dieses groteske Utopia, in dieses von der SS
euphemistisch «Interessengebiet» genannte Sperrgebiet um das KZ, das dem Film den Namen gibt. Dafür taucht dann das Feuer aus den Schornsteinen von drüben des Nachts das Schlafzimmer in ein
makabres Licht. Apropos Schlafgemach: Dass in jenem von Rudolf und Hedwig nicht mehr viel geschieht, ist ein Thema, das Glazer zwar nur anschneidet; dass in der Beziehung unter der gepflegten
Oberfläche aber manches im Argen liegt, wird spätestens dann offenkundig, als Rudolf ihr eröffnet, dass er – obgleich er in den Worten seines Vorgesetzten «in vier Jahren mühevoller Arbeit
Unglaubliches geleistet hat» in Auschwitz – versetzt werden soll. Hier kommt dann das Hexenhafte in Hedwig heraus, so wie das später auch im Umgang mit ihren (polnischen) Bediensteten
passiert. Und dann sagt «Mutzi», wie Rudolf sie auch nennt, diese «Inspiration für die neue deutsche Gemeinschaft im Osten», tatsächlich noch diesen Satz: «Hier haben wir alles, was wir wollen,
vor unserer Haustür.» Und im Hintergrund steigt der Rauch aus den Kaminen des Krematoriums auf. Es sind das jene raren Momente, wo der Film vielleicht einen Tick zu weit geht, ins Plumpe zu
driften droht; es sind das indes auch jene Ausnahmesituationen, wo die Darsteller glänzen dürfen. Ansonsten aber ist das kein schauspielerisches Spektakel – dafür ist die Kamera dann doch meist
einfach zu weit weg. Störend ist das freilich nie. Hinreichend erschüttert ist man auch ohne das Bravado von Friedel und Hüller und immer wieder dann ganz besonders, wenn zwischen die profanen
Verrichtungen um den Ort des ultimativ Bösen und die harmlosen Ausschmückungen des Lagerlebens (Fussball! Fliedersträucher!) mit monströser Wucht Szenen von geradezu grotesker Grausamkeit,
nachgerade bizarrer Bestialität platzen – etwa wenn Rudolf seiner Tochter weltabgewandt die Geschichte von Hänsel und Gretel und der Hexe im, ja, Ofen erzählt oder wenn den Kindern nach dem
Planschen im Fluss die Asche aus den Vernichtungsöfen am Leib klebt. Da ist der nicht fassbare, nicht fassbar zu machende Horror dann ganz nah. Denn auch wenn der eigentliche Ort des Geschehens
gar nie richtig gezeigt wird und die Opfer unsichtbar bleiben – präsent sind sie jederzeit. So präsent wie lange nicht mehr. Und die Schreie und der Rauch – das ist nie nur
Hintergrund.