von Sandro Danilo Spadini
Sonne, Strand, Fussball – es ist das Klischeebild von Brasilien, das uns Regisseur Walter Salles («Diarios de motocicleta») in der Eröffnungsszene von
«I’m Still Here» präsentiert. Dass der Scheint trügt und ein Schatten über diesem Land liegt, dass
da eigentlich dunkle Wolken den blauen Himmel verdecken müssten: Das hat uns freilich die Einblendung kurz zuvor deutlich gemacht. Wir sind hier nämlich im Brasilien des Jahres 1970;
Weihnachtszeit zwar, und die geliebte Seleção ist ein paar Monate davor zum dritten Mal Weltmeister geworden, aber eben auch das sechste Jahr der Militärdiktatur, eine Zeit der Repression und der
Desillusion, menschenverachtender Machtdemonstrationen und politischer Säuberungsaktionen, eine Zeit von unermesslichem persönlichem Leid vor allem. Und dieses Leid, es wird auch vor den Paivas
nicht haltmachen, einer siebenköpfigen Familie aus Rio de Janeiro, wie sie quirliger und fröhlicher nicht sein könnte, das Glück vollkommen, die Harmonie perfekt: Vater Rubens (Selton Mello), ein
vormaliger Kongressabgeordneter der Arbeiterpartei, der unlängst nach Jahren im selbst gewählten Exil heimgekehrt ist, Mutter Eunice (Fernanda Torres) und die fünf Kinder, vier Töchter und ein
Sohn als Nesthäkchen. Die Älteste, Veroca (Valentina Herszage), ein popkulturell und auch politisch interessierter Teenager, steht kurz vor dem Abflug nach London, wohin auch Freunde der Paivas
emigrieren, die in Brasilien um ihre Sicherheit fürchten. Rubens hält das anders als seine Frau für «paranoid»; er glaubt, dass das alles bald vorbei sein werde. Andere aus dem Bekanntenkreis
hingegen nennen das Land «eine tickende Zeitbombe» und halten sich und ihre Freunde für «leichte Beute». Jetzt aber wird zunächst am Strand vor dem Haus der Paivas ein Erinnerungsfoto mit allen
geschossen, bei dem sich Jahrzehnte später niemand mehr so recht erinnern wird, wann und weshalb es aufgenommen wurde. Ein letzter Moment der sonnigen Glückseligkeit – bis sie dann ohne
Vorwarnung im Wohnzimmer stehen, diese wortkargen Typen, die vermutlich das Militär geschickt hat. Sie mögen nicht im Stechschritt mit gezogener Waffe und zackigen Befehlen gekommen sein, sie
mögen sich sogar halbwegs höflich aufführen und mit den Kindern spielen und rumalbern, und sie mögen beschwichtigen, dass das bloss Routine sei. Doch als Rubens zum Abschied lächelt, bevor er
sich hinters Steuer seines Wagens setzt – da fürchtet Eunice, dass dies das Letzte sein könnte, was sie von ihm sehen wird, dass Rubens eben nicht heute Abend wieder daheim sein wird, wie ihr
versichert wird. Stattdessen werden auch sie und Tochter Eliana (Luiza Kozovski) kurz darauf abgeführt und wegen linker Aktivitäten und Verbindungen zu Terroristen verhört. Auf dem Boden, auf dem
der Vernehmungsbeamte seine Zigarette ausdrückt, klebt Blut. Eunice wird zwölf Nächte in einer fensterlosen Zelle verbringen. Und als sie dann wieder nach Hause kommt, fängt ein völlig neues
Leben an.
Bange Blicke statt strahlender Gesichter
Vibrierend vor Energie, voller Freude und Musik, das pralle Leben – so präsentiert sich der Film im ersten Akt. Und dann: ist alles Leben aus ihm gewichen, die Musik verstummt, die Freude
versiegt, hat die Energie lähmendem Entsetzen Platz gemacht – ist es ein anderer Film, in dunklen Farben, mit bedrohlichen Klängen, von Formalität beherrscht. Das Kecke, Neckische, Spielerische,
es bricht sich nur noch dann und wann Bahn. Zermürbung und Schikane, das ist die neue, die harte, die triste Realität, Entmenschlichung und Erniedrigung, Demütigung und Lügen – die Strategien von
autoritären Regimes halt, des Totalitarismus. Höflich ist jetzt niemand mehr; nur vereinzelt scheint noch ein Funken Menschlichkeit auf, wenn etwa der Wärter Eunice zu verstehen gibt, er heisse
das alles nicht gut. Unglaube und Unverständnis. Machtlosigkeit und Ratlosigkeit. Bange Blicke und Tränen der Verzweiflung statt strahlender Gesichter und überschäumender Lebensfreude: Das
allerdings will Eunice nicht akzeptieren, nicht bei ihren Kindern, die ihr alles bedeuten, die Rubens alles bedeutet haben, diesem so liebevollen Vater und Ehemann. Und deshalb wird sie auch
dann, wenn ihr bewusst wird, dass Rubens nicht wiederkehren wird, wenn sie die niederschmetternde Gewissheit hat, dass das Militär ihn umgebracht hat, wird sie also auch dann ihre Trauer
verwinden, ihre Erschöpfung überwinden, ihre beharrlichen Nachforschungen hintanstellen, sich ein Stück weit auch verstellen und wird versuchen, eine gewisse Normalität in ihr Heim
zurückzubringen – und wenn es irgendwie geht, auch die Fröhlichkeit. Den Liebsten zuliebe.
Eine zutiefst würdevolle Darbietung
Es ist erstaunlich und bisweilen fast irritierend, wie sec und souverän Salles die Gefühle im Zaum hält in seinem bisweilen bildgewaltigen und stets wirkmächtigen Spielfilm, seinem ersten seit
zwölf Jahren, der auf den Memoiren von Eunice und Rubens Paivas Sohn Marcelo beruht und nicht nur in seiner Heimat ein Riesenerfolg war, sondern auch den «Ausland-Oscar» gewann. Pompöses Pathos
und politisches Poltern: Das sucht man trotz seines gewichtigen Beitrags zur historischen Vergangenheitsbewältigung in Lateinamerika, der er sich wie jüngst die argentinischen Dramen «Azor» und
«Argentina, 1985» verschrieben hat, hier meist vergebens. Das hat Salles nicht nötig. Das hat auch der Stoff nicht nötig. Denn der spricht für sich. Salles, der mit den Paiva-Kindern befreundet
und oft bei ihnen zu Hause war, braucht auch keine tränenreichen Gefühlsausbrüche, keine wortreichen Zusammenbrüche. Denn er hat die überragende, mit dem Golden Globe prämierte Fernanda Torres.
In ihren Augen, in ihrem rastlosen Blick spiegelt sich alles, was wir wissen müssen, was wir fühlen müssen. Und so gönnt Salles denn auch nicht den Schurken und Schergen die Ehre, sie ins Zentrum
seiner Geschichte zu hieven. Eine Niedertracht hier, etwas Drangsal da – das reicht, um zu verstehen, womöglich auch, um uns zu warnen in diesen haarsträubenden Zeiten, denen sich der Film in
seiner Coda, die 1995 und 2014 spielt, zumindest chronologisch noch annähern wird. Worum wir uns mehr noch kümmern sollen, ist das Leid, ist der Verlust, dieser sinnlose und nie
wiedergutzumachende Verlust, der hier erlitten wird. Und der von Eunice getragen wird mit grösstmöglicher Würde. «I’m Still Here» heisst dieser Film. Und ja, sie ist immer noch hier, ist trotz
allem ein Mensch geblieben. Ein guter Mensch. Der beste.