Ein anständiger Kerl. Und ein ehrlicher Mann?

Mit dem Gerichtsthriller «Juror #2» hat der 94-jährige Clint Eastwood nochmals einen jener hinreichend spannenden und technisch tadellosen Mittelklasse-Studiofilme gedreht, die für sein Wirken als Regisseur lange Zeit charakteristisch waren. Und das mutet in der heutigen Kinolandschaft alles andere als selbstverständlich an.

Zar Amir-Ebrahimi im Film Holy Spider

Warner Bros.

von Sandro Danilo Spadini

Nach allem, was man in den ersten Minuten von Clint Eastwoods Gerichtsthriller «Juror #2» von diesem Justin Kemp (Nicholas Hoult) gesehen hat, kann man nur sagen: ein lupenreiner Musterknabe, der seine familiären wie auch seine bürgerrechtlichen Pflichten ernst nimmt, und ein All-American Boy noch dazu, hart arbeitend und gottesfürchtig. Und all das, was wir knapp zwei Stunden später über diesen so brav und bieder aussehenden Mittdreissiger dann wissen, wird an unserer ersten Einschätzung nicht wahnsinnig viel ändern. Gleichwohl sehen wir Justin nun mit anderen Augen: als einen Menschen, wie er im richtigen Leben schon viel eher vorkommt, mit Makeln, Fehlern und Zweifeln, eine dreidimensionale Figur gleichsam statt dieser verzerrten Wunschvorstellung eines makellosen Helden, wie sie im heutigen Kino ohnehin nicht mehr erwünscht sind. Dass der 94-jährige Clint Eastwood in seiner 41. und potenziell letzten Regiearbeit nochmals so eine Figur erschaffen hat – ausgerechnet er, der auch in seinem Spätwerk, etwa in «American Sniper», «Richard Jewell» oder in dem einfach nur grauenhaften Vorgänger «Cry Macho», seinen Protagonisten gerne sehr klare und unzweideutige Konturen gegeben hat –, dass also «The Clint» nun nochmals einen Mann wie diesen hadernden und zaudernden Justin Kemp auf die Leinwand schickt, das ist alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Und ebenso wenig darf man es als gottgegeben hinnehmen, dass Eastwood mit «Juror #2» nochmals einen jener hinreichend spannenden, technisch tadellosen, einfach grundsoliden Mittelklasse-Studiofilme erschaffen hat, für die er jahrzehntelang bekannt war – so lange jedenfalls, bis er dann in bereits gesetzterem Alter anfing, Meisterwerke wie «Mystic River» oder «Million Dollar Baby» vom Stapel zu lassen.
 
Auf Henry Fondas Spuren
 
«Juror #2» ist die Geschichte eines Dilemmas von wenn nicht griechischer, so doch immerhin hitchcockscher Dimension. Justin Kemp, unser redlicher Musterbürger aus dem lieblichen Savannah im Bundesstaat Georgia, wird zum Geschworenendienst aufgeboten – eine Pflicht, der er selbstredend anstandslos nachkommt, auch wenn das jetzt gerade ziemlich ungelegen kommt, da seine Gemahlin Allison (Zoey Deutch) im dritten Trimester schwanger ist, eine Risikoschwangerschaft obendrein, um die Sache noch etwas verzwickter zu machen. Aber was sein muss, muss eben sein – da macht der Reportagen für ein lokales Lifestyle-Magazin schreibende Justin keine Anstalten, zumal nicht, nachdem die Richterin seinen Antrag auf Befreiung von der Pflicht recht lässig abgewiesen hat. Freilich wird schon gleich nach den Eröffnungserklärungen im Prozess gegen den des Mordes an seiner Freundin angeklagten vermeintlichen Schlägertypen James Sythe (Gabriel Basso) evident, dass Justin einen noch viel triftigeren Grund hat, nicht hier zu sein: Justin nämlich war in der Mordnacht nicht nur in der fraglichen Bar, in der sich der Angeklagte und das Opfer so heftig gezofft hatten; ihm ist dann im strömenden Regen auch etwas vor den Wagen gelaufen. Ein Hirsch, hat er damals gedacht. Die nach dem Streit mit ihrem Beau allein und wutentbrannt nach Hause stapfende junge Kendell Carter (Francesca Eastwood), denkt er jetzt mit kreidebleichem Gesicht auf der Geschworenenbank sitzend, Blut schwitzend, nach Atem ringend, die Gedanken sortierend. Ein kurzer Prozess, wie alle erwarten, wird das also nicht. Denn Justin denkt nicht daran, einen Unschuldigen für den Rest seines Lebens ins Gefängnis zu schicken für etwas, woran er Schuld trägt. Und so schwingt er, der «Juror #2», sich alsdann im Geschworenenzimmer zum legitimen Erben von Henry Fondas «Juror #8» aus Sidney Lumets genredefinierendem Klassiker «12 Angry Men» auf und plädiert als Einziger dafür, wenigstens in Erwägung zu ziehen, dass der Angeklagte unschuldig ist, und nicht diskussionslos der Argumentation der in einem engen Wahlkampf steckenden und auf einen Sieg angewiesenen Staatsanwältin Faith Killebrew (Toni Collette) zu folgen. Freunde macht sich Justin damit zunächst keine; für die anderen ist die Sache schliesslich klar, und sie wollen so schnell wie möglich nach Hause. Wie bei Lumet ist das eine Jury, die aus Leuten besteht, die allzu leichtfertig aus niederen oder nichtigen Gründen über einen Menschen zu richten bereit sind – dümmliche, wütende, gedankenlose, gleichgültige, rachsüchtige, voreingenommene Zeitgenossen. Es sind das aber auch nicht grundlegend schlechte Leute, und ihre Meinung ist nicht in Stein gemeisselt, ihre Denkmuster lassen sich aufbrechen, ihr Tunnelblick kann sich weiten – und das ist Justins Chance, seine einzige Chance, wie sein Anwalt (Kiefer Sutherland) ihm klarmacht. Nur ein Freispruch hilft ihm aus seiner Zweckmühle, ihm, dem seit vier Jahren trockenen Alkoholiker mit einer Vorgeschichte in Sachen Trunkenheit am Steuer, dem niemand glauben würde, dass er damals in dieser regnerischen Nacht seinen Drink in der Bar bloss angestarrt hatte.
 
Clint nimmt es gemächlich
 
Nicht zum ersten Mal macht sich Clint Eastwood hier Gedanken zu den Lücken und Tücken im amerikanischen Rechtssystem und darüber hinaus zur universellen Frage nach Recht und Gerechtigkeit an sich. Es ist insofern mehr als nachvollziehbar, dass er für seinen vermutlich letzten Film das über anderthalb Jahrzehnte unverfilmt in Hollywood rumschwirrende Skript des Debütanten Jonathan Abrams ausgewählt hat. Altersmilde gibt sich Eastwood in seiner Bestandesaufnahme indes nicht: Es ist zwar keine wütende Anklage, wenn er aufzeigt, wie fahrlässig aus Gründen der Überlastung, der Überforderung oder auch der Überambition mit einem Menschenleben umgegangen wird; es ist aber nichtsdestotrotz ein eindringliches Plädoyer für mehr Bedacht, mehr Empathie und wie so oft bei Eastwood: für mehr gesunden Menschenverstand. Und wie um seinen Punkt noch zu unterstreichen, widersetzt er sich auch mit seiner Inszenierung der angeprangerten Unachtsamkeit. Alle sind sie hier in Eile – nur eben Clint nicht. Er nimmt sich einmal mehr alle Zeit der Welt, fast so wie der soeben verstorbene David Lynch, mit dem er eine Vorliebe für die Technik der Transzendentalen Meditation teilte. Entsprechend ist das hier nicht atemlos spannend – aber es ist spannend genug. Es ist auch nicht übermässig dramatisch – aber andererseits ist gerade das eher zurückhaltende Spiel von Hauptdarsteller Nicholas Hoult eine der hervorstechendsten Qualitäten von «Juror #2». Schliesslich könnte das Ganze wohl auch etwas straffer erzählt sein – aber dafür haben dann am Schluss praktisch sämtliche wichtigen Figuren ein bisschen Fleisch am Knochen: nicht nur Justin, sondern auch Staatsanwältin Killebrew, der motivierte Pflichtverteidiger Eric Resnick (Chris Messina), der unnachgiebige Geschworene Marcus (Cedric Yarbrough), der pensionierte Polizist Harold (J.K. Simmons) und sogar die Gattin und der Angeklagte. Für einen Film, der sich vom Gerichtsdrama und von der Frage nach Schuld und Unschuld mehr und mehr zur Charakterstudie und zu einer Frage der Moral wandelt, ist das sicher nicht die schlechteste Eigenschaft. Und es zeugt von einer Menschlichkeit, die man dem alten Clint nach seinen letzten (Mach-)Werken nicht mehr richtig zugetraut hätte.