von Sandro Danilo Spadini
Als da wären nach einer läppischen Viertelstunde: Landschaftsidylle. Grossstadtgewusel. Schwangerschaft. Krebsdiagnose. Scheidungspapiere. Verkehrsunfall. Und das alles nicht nur im
Zeitraffer, sondern auch noch chronologisch wild durcheinandergewürfelt. Ohne Zweifel: Es ist üppig, was Regisseur John Crowley («Brooklyn») und Drehbuchautor Nick Payne («The Last Letter from
Your Lover») uns da im Liebesfilm
«We Live in Time» zur Vorspeise so alles auftischen. Und für einen Moment kommt denn auch dezente
Skepsis auf, ob sich das tatsächlich zu jenem Festmahl auswachsen wird, das nach der Veröffentlichung des ersten Trailers von nicht wenigen erhofft worden ist. Freilich haben wir da schon genug
gesehen, was den so weitverbreiteten Optimismus dann doch aufrechtzuerhalten vermag: Szenen voller Herz und Humor, ein kantiges und nichtsdestotrotz harmonisches Zusammenspiel von Süss- und
Bitternoten mit einem Schuss Waghalsigkeit – und vor allem ein Darstellerpaar, das über eine nachgerade leinwandsprengende Chemie verfügt. Ebendiese schon in ersten Schnipseln zu bewundernde
Chemie zwischen Florence Pugh («Oppenheimer») und Andrew Garfield («Spider-Man») war es, die den ganzen Hype überhaupt ausgelöst hatte und das liebesfilmhungrige Publikum von einem neuen
Kino-Traumpaar fantasieren liess, das in die Fussstapfen von Hugh Grant und Julia Roberts, von Tom Hanks und Meg Ryan, von Renée Zellweger und Colin Firth treten würde. Und der erste (und zweite)
Eindruck täuscht nicht: Pugh und Garfield schaffen hier etwas, was schmachten und schmunzeln lässt, etwas, dem in den Romantikerherzen ein langes Leben beschieden sein wird – etwas indes auch,
was mit den Romcoms von ehedem am Ende dann doch weniger gemein hat, als zu erwarten stand.
Gegensätze, die sich anziehen
Sehr viel gemein hat «We Live in Time» hingegen mit dem Liebesdrama «Supereroi» (2021) des italienischen Hitregisseurs Paolo Genovese – und das nicht nur inhaltlich und personell, sondern
auch von der nonlinearen Erzählweise her. Diese findet nach dem wild hüpfenden Auftakt dann zwar allmählich ein bisschen zur Ruhe, verbleibt fortan auch einmal länger als einen blossen
Wimpernschlag in einem Zeitfenster und kommt so mehr und mehr in Fluss. Die Orientierung zu behalten, bleibt dennoch für eine Weile einigermassen anspruchsvoll. Weil aber Crowley die Tempo- und
Rhythmuswechsel über weiteste Strecken so elegant hinbekommt, wird sich auch das noch einpendeln, sodass die Erzählung dieser grossen und durchaus unkonventionellen Liebe sich zu einem fraglos
runden, wenn auch nicht restlos geschmeidigen Ganzen fügen wird. Diese Ecken und Kanten, sie korrelieren freilich mit der sich in den eher unglamourösen Winkeln Londons und in dessen Umgebung
abspielenden Geschichte von Almut und Tobias, der leidenschaftlichen Gourmetköchin, die die Dinge am liebsten auf sich zukommen lässt, und dem linkischen Müslihersteller-Angestellten, der es gern
geregelt hat. So wie er bisweilen von ihrer impulsiven Art überfordert ist, so ist sie es immer wieder von seiner strukturierten Geisteshaltung; wo sie gern im Rampenlicht steht, da zieht es ihn
mehr in den Hintergrund. Und gleichwohl ist es keine Frage, dass das passt zwischen den beiden; überhaupt keine Frage ist das, auch wenn es ab und zu dann doch mal kracht, sich die Irritation in
Frustration hochsteigert, der Gedulds- und Toleranzfaden endlich reisst. Denn da ist einfach zu viel, was diese beiden Ungleichen verbindet, sie, die zuvor mit einer Frau zusammen war, und ihn,
dessen Ehe wegen der Ambitionen seiner Gattin in die Brüche gegangen ist: natürlich die gemeinsame Tochter, aber auch ein gewisses Urvertrauen und die Fähigkeit, selbst angesichts der
katastrophalsten Widrigkeiten nie je den Humor zu verlieren – einen Lebenswitz, der auch mal unpassend wirkt, nicht angemessen der ernsten, tragischen, romantischen oder erotischen Situation, der
aber trotzdem nie die Stimmung kaputtmacht, sondern vielmehr als Charmeinfusion wirkt. Dieser vielleicht nicht gerade schwarze, aber durchaus dunkle und, ja, ja, sicher britische Humor mag auch
in den kuriosen Umständen wurzeln, unter denen sie sich kennen gelernt haben: im Krankenhaus nämlich, nachdem sie den nur in einen Bademantel gehüllten Tobias über den Haufen gefahren
hatte.
Entscheidungen und ihre Konsequenzen
Krankenhäuser werden im weiteren Verlauf von Almuts und Tobias’ Geschichte schliesslich eine viel zu wichtige Rolle einnehmen – auch das wie die Figurenkonstellation eine deutliche Parallele zu
«Supereroi». Es geht nach der Diagnose Eierstockkrebs dann allerdings nicht nur um die Frage nach Leben oder Tod; es geht ebenso sehr um den Umgang mit diesem Los, mit dieser alles oder
einstweilen eben auch gar nicht mal so viel auf den Kopf stellenden neuen Situation, um die Entscheidungen, die man trifft, und die Konsequenzen, die man deswegen trägt. Für Almut, die Starköchin
und Restaurantbesitzerin, geht es auch um die Frage der eigenen Motivation und der richtigen Perspektive, darum, was sie nun priorisieren soll: ihre berufliche Ambition oder das gesundheitliche
Wohl, das Egoistische oder doch das Familiäre. Gerade hier zeigt sich nun, dass wir es nicht mit vielleicht kauzigen, moralisch letztlich aber makellosen Figuren zu tun haben, wie wir es aus
ähnlichen Geschichten gewohnt sind. Umso herzerwärmender, herzzerreissender wirkt das aber, weil es eben nie sentimental, sondern echt scheint, lebensecht, natürlich, um nicht zu sagen:
authentisch – ein bisschen jedenfalls und definitiv mehr als die meisten US-Produktionen, wo stets dieses wohltemperierte und mittels Testpublikumsvoten kalibrierte Kalkül durchschimmert. Hier
hingegen gehts auch mal hemmungslos intim und erotisch zur Sache, finden sich Almut und Tobias in hoffnungslos grotesken Situationen wieder und entfalten dann gerade die stilleren, sogenannt
kleinen, mit vermeintlichen Alltäglichkeiten gespickten Szenen eine gnadenlos heftige Wirkung – so wie die ungemein berührende Schlussszene, in der nochmals alles drin ist, was diesen sehr
klugen, sehr heutigen Liebesfilm ausmacht: Romantik und Humor, Dramatik und Tragik.