Amerika – deine verborgenen Filmperlen

Das Mainstream-Kino laboriert zwar seit geraumer Zeit an einer kreativen Störung, doch cineastische Leckerbissen werden in den USA nach wie vor zur Genüge gebacken. Bei uns kriegt man davon freilich nur wenig mit.

 

Von Sandro Danilo Spadini

Es sind grosse, beinahe magische Kinomomente, wenn ein vollbärtiger Jeff Daniels als egozentrischer Ex-Erfolgsautor seinem ihm hörigen älteren Sohn die Dinge des Lebens erklärt. Oder wenn ihn auf dem Tennisplatz im Duell mit seinem pubertierenden jüngeren Sprössling der Ehrgeiz packt. Oder wenn er naserümpfend die literarischen Unternehmungen seiner von Laura Linney gespielten Ex-Frau kommentiert. Zu sehen ist das alles in einem Film namens «The Squid and the Whale», einer mit wenig Geld und viel Liebe gefertigten Tragikomödie, in der Regisseur und Drehbuchautor Noah Baumbach auf süffisante wie mitfühlende Weise die Sorgen zweier Scheidungskinder im Brooklyn des Jahres 1986 aufzeigt. In den USA wurde dieses mit drei verdienten Golden-Globe-Nominierungen dekorierte Filmjuwel von über 200 Kritikern auf deren letztjährige Top-Ten-Liste gesetzt; auf helvetischen Leinwänden waren Daniels’ magische Momente allerdings nicht zu bestaunen.

Oscars als Trendsetter

Dort dominieren vielmehr Zeugnisse der nun schon geraume Zeit anhaltenden kreativen Krise Hollywoods: zum Gähnen formelhafte Komödien, bis zum Zerplatzen aufgeblasene Materialschlachten, Sequels, Remakes, Comic-Verfilmungen und in Filme verwandelte Fernsehserien bis zum Abwinken. Mac-Kino ist das, Fastfilm sozusagen – weder allzu frisch noch besonders sättigend. Dass ob dieses rein funktionalen Einheitsbreis der Ruf des US-Kinos leidet, liegt auf der Hand. Gerade die letzten Oscars haben indes gezeigt, dass sich im Schatten der Majors einiges tut und die wirklich spannenden Streifen längst nicht mehr die mit den fetten Budgets sind. Unter den fünf in der Königskategorie nominierten Filmen war mit Steven Spielbergs «Munich» nur eine Produktion zu finden, die mit der ganz grossen Kelle anrührt; die Mitstreiter «Crash», «Brokeback Mountain», «Capote» und «Good Night, and Good Luck» haben derweil nur zwischen 7 und 14 Mio Dollar gekostet (zum Vergleich: Peter Jacksons «King Kong» hat 207 Mio Dollar verschlungen, «Munich» immerhin 75 Mio).

Unerschlossene Kinolandschaften

Von Budgets im hohen einstelligen oder gar zweistelligen Millionenbereich durften Filmemacher wie Noah Baumbach oder Phil Morrison bisher freilich nur träumen. Morrison debütierte letztes Jahr mit der umwerfenden Tragikomödie «Junebug», in welcher er uns in die ziemlich skurril anmutende, filmisch kaum erschlossene Gegend von North Carolina entführt. Mit schwereloser Leichtigkeit und respektvollem Witz wird hier die Geschichte eines mittlerweile urbanisierten Frischverheirateten (Alessandro Nivola) erzählt, der auf einer konfliktbeladenen Stippvisite bei seiner im Provinziellen verharrten Familie mit der eigenen Geschichte konfrontiert wird und sich dabei seiner Chicagoer Gattin (Embeth Davidtz) von einer völlig unvertrauten Seite zeigt. Trotz Oscar-Nominierung für Nebendarstellerin Amy Adams wurde auch «Junebug» bei uns nicht gezeigt; stattdessen lief die inhaltlich ähnlich gelagerte Grossproduktion «The Family Stone» – ein grauenhaft verlogenes Machwerk, dem die Intelligenz von Morrisons Film zur Gänze abgeht.

Anspruchsvolle Experimente

Dass eine Nominierung für einen der «wichtigen» Oscars noch nicht das Ticket für die Schweizer Kinos löst, ist nichts Neues. Vor fünf Jahren verpassten eidgenössische Kinogänger gar die Glanzauftritte gleich dreier für die Hauptrolle nominierter Ausnahmekönnerinnen. Erst im Heimkino bewundern konnte man so Laura Linney im Meisterwerk «You Can Count on Me», Joan Allen im blitzgescheiten Politthriller «The Contender» und Ellen Burstyn in Darren Aronofskys «Requiem for a Dream», dem vielleicht besten Drogenfilm aller Zeiten. Linney, Allen und Burstyn mögen Namen sein, die an der Kasse nicht so ziehen – im Gegensatz etwa zu Gwyneth Paltrow. Doch auch deren beiden letzte Filme blieben dem hiesigen Publikum vorenthalten: Kann dies im Falle des elegant inszenierten Wissenschaftlerdramas «Proof» trotz des motivierten Mitwirkens von Anthony Hopkins und Jake Gyllenhaal noch verkraftet werden, ist die Nichtbeachtung von «Sky Captain and the World of Tomorrow» wenigstens aus filmhistorischer Sicht bedauerlich. Der mit Jude Law und Angelina Jolie starpowernde und auf hohem Niveau scheiternde noirige Sciencefiction-Film gehört mit seinen komplett am Computer generierten Bildern nämlich zum Innovativsten, was Hollywood in letzter Zeit hervorbrachte. Experimentelles und Anspruchsvolles aus amerikanischen Landen hat es bei uns aber ohnehin schwer. So fand David O. Russells mit einer Allstar-Besetzung aufwartender Existenzialisten-Exkurs «I Heart Huckabees» ebenso wenig einen Schweizer Verleiher wie Steven Soderberghs mit Laiendarstellern gedrehtes Drama «Bubble» oder der 2004 in Sundance ausgezeichnete Physikeralptraum «Primer».

Neue Wunderkinder

Entsprechend gehen einem hierzulande auch schon mal veritable Kulthits durch die Lappen – wie etwa die mit Philosophischem und Übersinnlichem kokettierende Komödie «Donnie Darko» (2001) oder der schmerzhaft komische Aussenseiterschwank «Napoleon Dynamite» (2005). Verpasst hat man damit auch die Geburt der Regie-Wunderkinder Richard Kelly und Jared Hess, wie man auch schon nicht dabei war, als der TV-Mime Zach Braff («Scrubs») mit seinem Wunderwerk «Garden State» oder der für seinen «europäischen» Stil gelobte David Gordon Green (zuletzt «Undertow») das Licht der Regisseurenwelt erblickten. Und versperrt wird einem so mitunter auch der Einblick in amerikanische Subkulturen, wie ihn die einstige Dok-Filmerin Barbara Kopple und Starschreiberling Stephen Gaghan («Traffic», «Syriana») in dem das Phänomen der sogenannten Wiggers («White Niggers») sezierenden Drama «Havoc» eröffnen. Apropos Dok: Selbst hier liegt einiges im Argen und für den aufgeschlossenen und des Englischen mächtigen DVD-Käufer zum Entdecken bereit. Mit «Enron: The Smartest Guys in the Room» und Werner Herzogs «Grizzly Man» haben es auch zwei Highlights aus diesem Bereich nicht in die hiesigen Lichtspielhäuser geschafft. Angesichts solch überragender Qualität von einer generellen Krise des US-Kinos zu sprechen, wäre also völlig verfehlt. Unter dem Pomp der überlebensgrossen Produktionen verbergen sich vielmehr schier unzählige Perlen, die still und leise im grössten und noch immer aufregendsten Filmland der Welt heranwachsen; sie zu entdecken, ist freilich mit mehr Aufwand als auch schon verbunden.

 


Die versteckten Top Ten 2005

1. «Junebug»: Tragikomödie von Phil Morrison mit Amy Adams und Alessandro Nivola.


2. «Garden State»: Tragikomödie von Zach Braff mit Natalie Portman und Peter Sarsgaard.


3. «Enron: The Smartest Guys in the Room»: Doku von Alex Gibney über die Mauscheleien beim untergegangenen Stromriesen.


4. «The Squid and the Whale»: Scheidungsdrama von Noah Baumbach mit Jeff Daniels und Laura Linney.


5. «Grizzly Man»: Doku von Werner Herzog über den Bär-Aktivisten Timothy Treadwell.


6. «The Assassination of Richard Nixon»: Drama von Niels Mueller mit Sean Penn und Naomi Watts.


7. «Happy Endings»: Ensemblefilm von Don Ross mit Maggie Gyllenhaal und Lisa Kudrow.


8. «Thumbsucker»: Teenagerdrama von Mike Mills mit Lou Taylor Pucci und Keanu Reeves.


9. «A Love Song for Bobby Long»: Drama von Shainee Gabel mit John Travolta und Scarlett Johansson.


10. «The Weather Man»: Tragikomödie von Gore Verbinski mit Nicolas Cage und Michael Caine.