Oscars 2020: Eine erste Auslegeordnung

Nach dem Ende der Herbstfestival-Saison (Venedig, Telluride, Toronto) lassen sich erste seriöse Prognosen für die kommenden Oscars machen. Nun ja, halbwegs seriöse. Die neue, sprich diversere Zusammensetzung der Academy könnte dafür sorgen, dass alte Quasi-Gewissheiten nicht mehr gelten.

Once Upon a Time… in Hollywood


Das Tarantino-Meisterwerk war zwar kein Festival-Wettbewerber, es ist aber immer noch der Film, den es zu schlagen gilt: seiner schieren Brillanz wegen und weil die Academy so gerne in den Spiegel blickt und Filme über Hollywood liebt (siehe «Argo», «The Artist»).


Marriage Story


Das von der Kritik frenetisch gefeierte Ehedrama von Noah Baumbach («The Squid and the Whale») stammt aus dem Hause Netflix – nicht unbedingt ein Vorteil angesichts der wenig Streaming-freundlichen Academy. Die beiden Hauptdarsteller Adam Driver und Scarlett Johansson dürfen sich aber zumindest ziemlich sicher über eine Nominierung freuen.

 


 

The Two Popes


Auch dieses Drama von Fernando Meirelles («Cidade de Deus») läuft demnächst auf Netflix. Anthony Hopkins spielt darin Papst Benedikt, Jonathan Pryce Papst Franziskus. Quasi ein klerikales Buddy-Movie, das bei der Presse durchaus seine Bewunderer hat.

 


 

The Irishman


Und Netflix zum Dritten: Das seit Ewigkeiten sehnsuchtsvoll erwartete Mafiadrama von Martin Scorsese mit der Legendenbesetzung Robert De Niro, Al Pacino, Joe Pesci und Harvey Keitel dauert dreieinhalb Stunden und läuft ab Ende November. Die Kritiker, die es bereits gesehen haben, feiern es frenetisch. Etwas anderes als ein waschechtes Meisterwerk hat freilich auch niemand erwartet hier.

 


 

A Beautiful Day in the Neighbourhood


Der allseits geliebte Tom Hanks spielt hier unter der Regie der aufstrebenden Marielle Heller («Can You Ever Forgive Me?») den in den USA geradezu vergötterten Kindersendung-Moderator Fred «Mister» Rogers. Quasi ein No-Brainer für eine Oscar-Nominierung.

 


 

Bombshell


Dieses Drama von Politspezialist Jay Roach («Game Change», «Recount») hat zwar noch niemand gesehen. Das Thema (der Aufstand einer Gruppe von Frauen gegen Fox-News-Präsident Roger Ailes) und die Besetzung (Charlize Theron als Megyn Kelly, Margot Robbie, Nicole Kidman) deuten aber auf einen hoffnungsvollen Bewerber hin – auch wenn die #MeToo-Welle ein wenig abgeebbt ist.

 


 

Ford vs. Ferrari


Ein recht klassisches, die ältere Academy-Generation ziemlich sicher ansprechendes Stück Männerkino ist dieser Film von James Mangold («Walk the Line»). Mit Christian Bale und Matt Damon in den Hauptrollen schildert er, wie Ford im Jahr 1966 den grossen Konkurrenten Ferrari beim 24-Stunden-Rennen von Le Mans herausforderte.

 


 

Joker


Dieses in Venedig mit dem Goldenen Löwen prämierte Drama von Komödienspezialist Todd Phillips («The Hangover») hat auf IMDb.com derzeit das fulminante Score von 9,4 und ist damit derzeit der bestbewertete Film aller Zeiten. Die Meinung der Kritiker freilich ist geteilt: Die einen loben die ohne jegliches Superheldentum und Comiczeugs auskommende Ursprungsgeschichte über Batmans legendärsten Widersacher und die Performance von Joaquin Phoenix als kühne Charakterstudie; andere bezeichnen den an die Scorsese-Klassiker «Taxi Driver» und «King of Comedy» angelehnten Film als hysterischen Müll.

 


 

Knives Out


Einen geradezu altmodischen Film hat hier Regisseur Rian Johnson («Brick») gedreht: einen Whodunnit mit All-Star-Besetzung zum Mitraten und Schmunzeln. Die Kritiker sind voll des Lobes.

 


 

Little Women


In dieser noch nicht gezeigten Literaturverfilmung von Hollywoods liebster Hipsterin Greta Gerwig («Lady Bird») spielen zwar auch Hollywoods liebster Hipster Timothée Chalamet, Laura Dern, Bob Odenkirk und, jawohl, Meryl Streep mit. Im Zentrum der Handlung stehen aber vier Schwestern, die im Amerika nach dem Bürgerkrieg erwachsen werden: Saoirse Ronan, Emma Watson, Florence Pugh und Eliza Scanlen – also vier von Hollywoods liebsten weiblichen Jungstars. Alles andere als eine Flut von Oscar-Nominierungen wäre schon fast eine Sensation.

 


 

Waves


Dieses Familiendrama von Trey Edward Shults («It Comes at Night») hat in Toronto und Telluride Vergleiche mit dem Oscar-Gewinner «Moonlight» evoziert. Es könnte zum Liebling jener Academy-Mitglieder werden, denen der Sinn mehr nach Zeitgeistigem steht.

 


 

Uncut Gems


Ein Chaos, ein kranker Trip, eine kinematische Panikattacke, als ob man zwei Stunden im Gehirn eines Verrückten gefangen sei: Die Kritiker, nun ja, lieben diese Tragikomödie der Safdie-Brüder («Good Time») um einen verzweifelten Diamantenhändler aus New York. Und Adam Sandler soll in der Hauptrolle eine Wucht sein.

 


 

Cats

 

Nach dem grösstenteils mit barem Entsetzen aufgenommenen Trailer zur Realverfilmung des Musicals mit Taylor Swift und Idris Elba sollte eine Oscar-Nominierung eigentlich vom Tisch sein. Aber die Academy liebt nun mal ihre Musicals.

 


 

Judy


Dieses Biopic über Judy Garland ist zwar nicht allzu wohlwollend aufgenommen worden. Renée Zellwegers Performance aber wurde allseits gefeiert.

 


 

Dark Waters

 

Das noch nicht gezeigte Justizdrama von Todd Haynes («Far from Heaven») steht in der Tradition von «Erin Brokovich»: Ein Anwalt (Mark Ruffalo) zerrt das Chemieunternehmen DuPont wegen Umweltverschmutzung vor Gericht. Auch mit von der Partie: Anne Hathaway und Tim Robbins.


 

1917

 

Das Erstweltkriegsdrama von Sam Mendes («American Beauty») wartet mit einer britischen All-Star-Besetzung um Richard Madden, Benedict Cumberbatch und Colin Firth auf. Ob es etwas taugt, wird sich um Weihnachten herum zeigen. Aber ziemlich sicher wird es recht viel taugen.

 


 

Motherless Brooklyn


Edward Norton zeichnet bei der Verfilmung des gefeierten Kriminalromans von Jonathan Lethem für Drehbuch, Regie und Hauptrolle verantwortlich. Die ersten Reaktionen auf die Kinoversion der in den Fünfzigerjahren spielenden Geschichte um einen Privatdetektiv mit Tourette-Syndrom sind geteilt.

 


 

Ad Astra


Das philosophische Weltraum-Epos von James Gray ist zwar ein stupendes Meisterwerk und schon jetzt ein Klassiker seines Genres. Als Oscar-Kandidat hat es gleichwohl nur Aussenseiterchancen. Ob das auch für Hauptdarsteller Brad Pitt gilt, ist allerdings fraglich. Nicht wenige sehen in seiner maximal beherrschten Performance eine Karrierebestleistung.

 


 

The Farewell


Dass die Academy mittlerweile aufgeschlossener gegenüber fremdsprachigen Werken ist, hat sie spätestens letztes Jahr mit der zehnfachen Nominierung von «Roma» oder auch der Bevorzugung des polnischen Regisseurs Pawel Pawilowski etwa gegenüber Bradley Cooper («A Star Is Born») und «Green Book»-Maestro Peter Farrelly bewiesen. Gut möglich, dass die rund um den Globus gefeierte Familientragikomödie der chinesischstämmigen Amerikanerin Lulu Wang prominente Berücksichtigung findet. Zumal sie wenigstens zum Teil in Englisch gehalten ist und auch in New York spielt.

 


 

Parasite


Auch der diesjährige Cannes-Gewinner des südkoreanischen Meisters Bong Joon-ho («Mother») ist eine Familientragikomödie; und sie ist sogar noch einen Tick besser bewertet als «The Farewell». Eine Oscar-Nominierung zumindest für den Regisseur liegt absolut drin.