Von Sandro Danilo Spadini
Es gibt da diesen Witz: Ein zehn Meter hoher Spiegel wurde in der Oscar-Nacht auf die Bühne des Dolby Theatre gebracht und erhielt eine fünfminütige Standing Ovation. Fies zwar, aber wie bei
vielen Gemeinheiten wohnt auch dieser ein Funken Wahrheit inne: Hollywood betrachtet sich nun mal gerne selbst. Und die Academy hat diesem Narzissmus oft genug gehuldigt und Filme prämiert, die
in der Blase drehten und um die eigene Branche kreisten, siehe «The Artist», siehe «Argo». Ausgerechnet dieses Jahr freilich hat sie dieser Versuchung widerstanden: Sie hat nicht Quentin
Tarantinos stimmungsvollen Nostalgietrip «Once Upon a Time… in Hollywood» zum Jahresbesten gekrönt, den luzidesten Film über das Wesen Hollywoods seit «Sunset Boulevard». Und überraschend
auch nicht den technisch stupenden Kriegsfilm «1917». Sondern die hintersinnige und bitterböse südkoreanische Thrillerkomödie «Parasite». Sie hat mithin weder das Leichte noch das Schwere
geadelt; weder den Film, in den man sich Hals über Kopf verliebt, noch das Werk, dem man höchsten Respekt zollt. Sie hat jenes Juwel gekrönt, das das Leichte mit dem Schweren vermählt.
Tarantino, der grosse Verlierer
Dass Tarantino nicht gewinnen würde, war indes keine Sensation mehr. «1917» war der Film, der das ominöse Momentum auf seiner Seite hatte. Er hatte nicht nur bei den Golden Globes reüssiert,
sondern auch bei den für die Oscar-Prognose ungleich bedeutenderen Branchenverbänden DGA und PGA. Das Feld schien also bestellt für das Drama von Sam Mendes; eine gemähte Wiese war das trotzdem
nicht. Weniger in Tarantinos historischem Hollywood-Panorama sahen viele aber den potenziellen Spielverderber als tatsächlich in «Parasite» des koreanischen Meisters Bong Joon Ho. Dieser gewann
nach den Herzen der versammelten Filmgemeinde unter tosendem Applaus zunächst in der Originaldrehbuch-Sparte und vermieste dem Mitfavoriten Tarantino so den Abend vollends. Dann gab es
konkurrenzlos den Ausland-Oscar. Und im Anschluss ein Erdbeben, als Bong Joon Ho auch noch in der Regiekategorie triumphierte. Statt eines Gigantenduells Tarantino vs. Scorsese, das in der
Frühphase der Awards-Saison prognostiziert worden war, hatte es schliesslich die längste Zeit nach einem Spaziergang des Briten Sam Mendes ausgesehen. Sein halsbrecherischer Ansatz, die Schrecken
des Kriegs in einer einzigen langen Einstellung einzufangen, elektrisierte gerade die Leute vom Fach. Und sie, also die Regisseure unter den Academy-Mitgliedern, sind es halt, die in dieser
Sparte entscheiden. Der Kamera-Oscar schien der Academy dann aber offenbar genug der Ehre für «1917». Und die geradezu einmalige Gelegenheit, sich mit Tarantino einen der ganz Grossen des
Regiefachs nicht auch noch ungekrönt durch die Lappen gehen zu lassen, mochte sie nicht ergreifen. Stattdessen ging an diesem Abend, anders als so oft in jüngerer Zeit, alle Liebe ungeteilt an
denselben Film. Bei aller Klasse von «Parasite», der als erster nicht englischsprachiger Film den Hauptpreis gewann, ist das in einem Jahr voller Meisterwerke doch etwas merk- und
fragwürdig.
Wieder mehr Glamour
Überraschungsfrei und diskussionslos verlief der Abend derweil in den Darstellerkategorien. Wie in der Regiesparte standen auch hier endlich wieder grosse und glamouröse Namen à gogo zur Wahl.
Und die vier Gekrönten gehören denn auch alle dem Hollywood-Adel an: Joaquin Phoenix wird von nicht wenigen als Talentiertester seiner Generation betrachtet und war nach seiner
Karrierebestleistung im Superheldentum-freien Batman-Ableger «Joker» (über)reif für den Ritterschlag. Renée Zellweger legte in «Judy» – einer Hollywood-Story notabene – eines der legendärsten
Comebacks der jüngeren Kinozeit hin, und Mann, wie liebt die Academy doch ein Comeback! Die in der Branche ungemein beliebte Laura Dern erfreut sich derzeit ebenfalls eines zweiten Frühlings und
hat in einem gefeierten, ob der Mordskonkurrenz sonst aber chancenlosen Film («Marriage Story») mitgespielt, dem man so auch noch was Gutes tun konnte. Und Brad Pitt… nun ja… ist eben Brad Pitt –
einer der grössten Stars in der Geschichte Hollywoods, dem man noch so gerne seinen verdienten Goldmann in die Hand drückte. Viele gute und nachvollziehbare Gründe also für diese Geehrten. Aber
der beste ist: Sie waren wirklich die Überflieger dieses Kinojahrgangs. Und dieser Jahrgang, er war für einmal wieder ein guter, ja ein historisch guter. Die Tarantinos, Scorseses, Mendes‘,
Phillips‘ und Mangolds, ein Bong Joon Ho oder eine Greta Gerwig haben in dieser weit nach oben ausreissenden Filmsaison demonstriert, wozu das darbende Medium Kino noch immer imstande ist. Dafür
gebührt ihnen Dank, Ehre und Respekt. Sollen sie sich also doch ruhig selbst feiern da drüben in Hollywood. Heuer haben sie es definitiv verdient.