Aus den Tiefen des amerikanischen (T)raums

Er war ein von Grund auf wunderliches und bewundernswertes Wesen. Und er erschuf ein rundes halbes Dutzend rigoros origineller Kino-Wunderwerke und revolutionierte nebenher noch das Fernsehen. Gestern ist der Filmmagier David Lynch vier Tage vor seinem 79. Geburtstag gestorben.

Netflix

Von Sandro Danilo Spadini

 

Es gibt da früh in der Pilotepisode von «Twin Peaks» eine Szene, die das Wirken von David Lynch und seine Wirkung auf uns recht gut fasst: Ein altmodischer schwarzer Telefonhörer baumelt in der Luft, im Schock fallen gelassen von einem gramgebeugten Vater; Schreie unermesslichen Schmerzes dringen aus ihm, die Schreie einer Mutter, die soeben erfahren hat, dass ihre 17-jährige Tochter gestorben ist. Darüber erklingen traurig-schaurig-schöne Pianoklänge, die allmählich in ein unheilschwangeres Dröhnen übergehen: Klassische Klänge eigentlich in einem eigentlich klassischen Setting, und doch ist das hier irgendwie, auf eine schwer benennbare, kaum bestimmbare, nicht fassbare Weise anders als alles, was man sonst so zu sehen bekommt; alles scheint ein wenig verschoben, leicht verrückt – man mag sogar sagen: bizarr. Oder womöglich: surreal. Aber warum, wenn das doch so unwirklich und traumartig ist, warum fühlen wir uns dann, als ob uns ein Messer in unser Herz gerammt worden wäre? Warum spüren wir beinahe physisch die Pein dieser armen Eltern? Oder mit anderen Worten: Warum wirkt das alles so unheimlich real? Die Antwort kann nur sein: weil hier ein Künstler am Werk war, der wie wenige andere eine Ahnung von der Welt um ihn herum und der menschlichen Psyche hatte, obwohl (oder wer weiss: weil?) er laut seinem langjährigen Kompagnon Mark Frost «resolut antipsychologisch» und «antiintellektuell» war.
 
Die abgründige Düsternis
 
Künstler trifft es hier übrigens wirklich gut. Denn David Keith Lynch, geboren am 20. Januar 1946 in der Kleinstadt Missoula, Montana, war das, was die Amerikaner einen «Renaissance Man» und wir etwas prosaischer vielleicht einen «Universalgelehrten» nennen. Seine Wurzeln liegen in der Malerei; in den Sechzigern verlustierte er sich an der Pennsylvania Academy of Fine Arts zu Philadelphia. Und auch wenn er sich alsbald dem Filmemachen zuwenden und in Los Angeles über den Zeitraum von sechs Jahren den Untergrund-Kultfilm «Eraserhead» drehen sollte, so hat ihn diese Zeit in einer Stadt, die beherrscht gewesen sei von extremer Gefahr und intensiver Angst, die voller Gewalt und Hass und Schmutz gewesen sei, mehr geprägt als alles andere. Und all der goldene kalifornische Sonnenschein, den er in seinem Haus und dem Atelier hoch oben in den Hollywood Hills jahrzehntelang aufgesaugt hat, und all die Aberstunden von Transzendentaler Meditation, deren profiliertester Verfechter er war, haben diese Düsternis nicht zu bannen vermögen. Denn aus dieser abgründigen Schwärze, die man diesem so sanft und immer ein wenig drollig wirkenden Filmemacher, Maler, Zeichner, Musiker, Autor und Schauspieler so gar nicht andichten würde, fischte Lynch seine Ideen; in ihr fand er all die niederschmetternden Geheimnisse, mit denen er seine Werke füllte. Selbst das Alter vermochte daran nichts zu mildern; wenn schon, dann ist Lynch in seinem Spätwerk noch radikaler geworden, nicht nur was das rigorose Ignorieren logischer Erzählmuster zugunsten einer intuitionsgetriebenen Vision und ein kompromissfreies Beharren auf künstlerischer Integrität angeht – was ihn zusehends auf noch mysteriösere Pfade und in immer verworrenere Gefilde leitete. Seinen neueren Filmen haftete auch vermehrt etwas Kaltes und Hartes an, das sich schon in den beiden gerade noch mit verstandesgesteuerter Herangehensweise zu dekodierenden Geniestreichen «Lost Highway» und «Mulholland Dr.» um die Nullerjahre Bahn gebrochen und in der «Twin Peaks»-Fortsetzung von 2017 einen Kontrast zur durchaus warmherzigen Originalserie gehämmert hatte.
 
Der Kinomagier im Fernsehen
 
Das Fehlen dieser humanistischen Herzlichkeit, die sich gerade in den Oscar-nominierten Filmen «The Elephant Man» (1980) und «The Straight Story» (1999) als eine der grossen Gaben Lynchs erwiesen hatte, trug nebst der weitgehenden Absenz von Eulen, Donuts und anderer «Twin Peaks»-Folklore denn auch nicht unwesentlich zu einer recht gemischten Reaktion auf das fanatisch herbeigesehnte Fortsetzungswerk des zuvor so unerträglich lange im Obskuren werkelnden Grossmeisters bei. So wurde «The Return», dieses von Lynch von A bis Z solo inszenierte 18-stündige Mammutprojekt, in dem er völlig entfesselt all seine Vorlieben und Obsessionen gleichsam zur ultimativen «David-Lynch-Show» goss, zwar sehr wohl bewundert und weitherum höchstrenommiert und frenetisch gefeiert – aber im Fussvolk dann doch nicht ganz so innig geliebt und gehätschelt wie das 25 Jahre ältere Stammwerk. Dieses hatte Lynch mit dem fernseherfahrenen, klassisch gebildeten und eher logisch denkenden Autor Mark Frost, der auch beim Comeback die Zügel mit in der Hand hielt, in vergleichsweise jungen Jahren erschaffen; und es liesse sich die paradoxe These aufstellen, dass die von noch allerhand Restriktionen gezähmte Serie aus der Kabelfernseh-Ära dann doch das Opus Magnum des Kinomagiers David Lynch sei (wiewohl «Twin Peaks», was absurd oft vergessen geht, ohnehin nicht nur Lynchs und anders als «The Return» auch nicht nur Lynchs und Frosts Werk war, sondern eine Gemeinschaftsarbeit eines guten Dutzends Regisseure und Schreiber, von der Lynch gerade mal ein Fünftel inszenierte und in deren Fortentwicklung er laut Frost ansonsten nur am Rande involviert war). Unstrittig ist indes, dass «Twin Peaks» das nachhaltigste Erbe des «Zaren des Bizarren» ist, zumal es nach einhelliger Lehrmeinung das Serienschaffen revolutionierte und den Weg ebnete für all die televisionären Perlen, die ab der Jahrtausendwende die Mattscheibe zu erhellen begannen.
 
Die verlorene Unschuld
 
Ein weiteres Paradox im Œuvre dieses Mannes, der nachgerade besessen war vom Dualen und von den Gegensätzen, der sich im September 2023 zum vierten Mal scheiden liess und es sich offenbar gleichwohl nie mit jemandem nachhaltig verscherzte, der das kalifornische Wohlfühlmantra so sehr umarmte, wie er Zucker, Koffein, Speck und Zigaretten liebte – dieses abermalige Paradox also ist, dass das ein Jahr nach Serienende erschienene, vom Publikum mit Abscheu verschmähte und von der Kritik mit Inbrunst verrissene Kinosequel «Twin Peaks: Fire Walk with Me» der recht sicher definitive David-Lynch-Film ist. Klar ist da «Mulholland Dr.», der gemäss einer BBC-Umfrage beste Film des 21. Jahrhunderts. Aber der mittlerweile längst rehabilitierte Kassenflop von 1992 nahm in Lynchs Herzen eingedenk seines nie ganz erloschenen Interesses für die Figur der so übel versehrten Laura Palmer offenkundig einen noch spezielleren Platz ein und ist in seinem eskalierenden Wahn und seiner in die mondlose Seelennacht hineinwabernden Tragik gar noch hypnotischer als das verschachtelte Hollywood-Rätsel, das Lynch einst als Pilot für eine weitere Fernsehserie konzipiert hatte. Beiden dieser Meisterwerke wohnt freilich jenes Leitmotiv inne, das Lynch zeit seines Schaffens beschäftigt und zeit seines Lebens zu schaffen gemacht hat: der Verlust der Unschuld – Laura Palmer aus «Twin Peaks» und Betty aus «Mulholland Dr.» sind insofern Seelenverwandte von Jeffrey Beaumont aus Lynchs Frühwerk «Blue Velvet». Etwas vom wenigen, was der notorisch kryptische und frustrierend auskunftsscheue Lynch freimütig preisgegeben hat, ist, wie sehr er seine Kindheit geliebt hat. Als komplett und total fantastisch habe er damals die Welt empfunden, sagte er einmal; in einem Ei sei er aufgewachsen: beschützt von den Unbilden der rauen, der erwachsenen Wirklichkeit, die dann in Philadelphia eben umso heftiger auf ihn einprasseln sollten. Dieser stets betrauerte, dieser nie überwundene Verlust der kindlichen Unschuld, er ist denn auch omnipräsent im Werk des ewigen Pfadfinders Lynch und spiegelt sich gerade in seiner vermeintlich widersprüchlichen Vorliebe für die braven Fünfziger wider, die etwa in den Kostümen und Requisiten, den Autos und der Musik in seinen Filmen evident wird. Oder wie es seine Biografin Kristine McKenna in dem sehr lesenswerten und noch hörenswerteren Buch «Room to Dream» beschreibt: «Die Fünfziger sind nie wirklich vergangen für Lynch.»
 
Der amerikanischste Regisseur
 
Den Orten, die David Lynch kreierte, haftet mithin auch deshalb stets etwas Zeitloses an, weil er ihnen ihm unvermindert präsente Souvenirs aus seiner Kindheit unterzujubeln pflegte. Seine Traumlandschaften gehen dabei indes weit über das Private und Persönliche hinaus: Diese «fremden und seltsamen Welten», wie sie der just seiner Unschuld beraubte Jüngling Jeffrey in «Blue Velvet» mit wohligem Schaudern beschreibt, sind immer auch ein (Horror-)Trip in die Psyche seiner Landsleute. Und überdies und zuvörderst war Lynch, dessen Vater für das US-Landwirtschaftsministerium arbeitete und die Familie berufsbedingt quer durchs Land schleifte, von Montana über North Carolina, Idaho und Virginia bis nach Kalifornien, auch einer der versiertesten Vermesser des amerikanischen Raums. Recht eigentlich war er so noch vor Martin Scorsese sogar der amerikanischste Regisseur der neueren Zeit, der nicht nur das gottlose Treiben in Hollywood («Lost Highway», «Mulholland Dr.», «Inland Empire») und in den schummrigen Schuppen von New Orleans («Wild at Heart») sezierte, sondern auch unter die weiss umzäunte Oberfläche des Kleinstadtlebens im pazifischen Nordwesten («Twin Peaks»), im Südosten («Blue Velvet») und im Mittleren Westen («The Straight Story») spähte.
 
Die erhellende Verwirrung
 
In «Twin Peaks: The Return» hat es ihn dann auch noch nach Las Vegas, North Dakota, New York und Texas verschlagen. Und es sah eine Zeit lang so aus, als ob er an einen dieser Orte zurückkehren könnte. Wäre die Pandemie nicht dazwischengekommen, hätte er für Netflix eine 13-teilige Serie mit dem Titel «Unrecorded Night» erschaffen; die Drehbücher hatte er offenbar bereits verfasst. Nicht wenige unkten damals, dass es sich hierbei um eine Geschichte aus dem «Twin Peaks»-Universum gehandelt hätte: aus diesem Ort, der in den Worten von Agent Cooper «both wonderful and strange» ist, wundervoll und seltsam. Wie dem auch sei, eines ist gewiss: dass wir uns auf eine Reise hätten gefasst machen dürfen, die uns zutiefst verwirrt und unsere Sinne vernebelt hätte, auf der wir aber, wenn wir es richtig angepackt hätten, abermals maximale Klarheit und komplette Erhellung erfahren hätten. Das Einzige, was wir dafür hätten tun beziehungsweise lassen müssen: uns schwere- und bedingungslos auf die Vision des David Lynch einlassen und unser antrainiertes Beharren auf kopfgesteuerter Sinnhaftigkeit aus den Knochen schütteln. Denn es ist eben kein esoterischer Schmäh, wenn es heisst, dass man ein Lynch-Werk nicht rational zu fassen versuchen solle, sondern erspüren und erfahren müsse.

Der Menschen- und Schauspielerfreund

Dass sein filmisches und televisionäres Œuvre keinen Zuwachs mehr erhalten und sein schon heute kultiger Auftritt als Regielegende John Ford in Steven Spielbergs «The Fablemans» sein letztes kleines Geschenk an die Welt der bewegten Bilder sein würde – das stand zu vermuten, als letzten Frühling publik wurde, dass es mit dem Netflix-Projekt «Unrecorded Night» endgültig nichts werden würde; und es stand mehr oder weniger fest, als Lynch im November letzten Jahres öffentlich machte, dass bei ihm, dem so passionierten und unverbesserlichen Kettenraucher, im Jahr 2020 ein Lungenemphysem diagnostiziert worden war und es dem ohnehin längst lieber in seinen eigenen vier Wänden verweilenden, tüftelnden, kreierenden, Kunst und Skurriles wie seine «Weather Reports» schaffenden Menschen- und Schauspielerfreund nicht mehr möglich sein würde, an einem Set zu arbeiten. Vor einer Woche dann musste er wegen der in L.A. wütenden Waldbrände auch noch sein geliebtes Haus in den Hollywood Hills verlassen; gestern schliesslich ist David Lynch vier Tage vor seinem 79. Geburtstag gestorben. «There’s a big hole in the world now», schrieb seine Familie zum Abschied – um dann noch einen von Lynchs Lieblingsratschlägen nachzuschieben: «But keep your eye on the donut and not on the hole.»