Your job is to get your audience to care about your obsessions.
Martin Scorsese
Diese Fernsehkomödie aus dem Jahr 2018 von Christoph Schaub («Nachtlärm») fällt zum einen durch ihren nachgerade exotischen Schauplatz Sagogn und das dort gesprochene Rätoromanisch auf. Und sie
ist zum anderen eine prima Erinnerung daran, welch grossartige Schauspieler und Schauspielerinnen der Kanton Graubünden immer wieder hervorbringt: Bruno Cathomas! Tonia Maria Zindel! Beat Marti!
Und vor allem: Rebecca Indermaur! Um ihre Figur kreist hier das turbulente Geschehen in bester Screwball-Tradition; und wie sie es schafft, dieser nicht nur ein nusstortengrosses Herz, sondern
auch eine schöne Seelentiefe zu verleihen – das ist allerhand und umso beachtlicher, als die Churer Chrakterdarstellerin die rätoromanische Sprache für diese feine Rolle erst noch erlernen
musste.
Indermaur spielt Mona, Mutter zweier Teenager und seit 20 Jahren verheiratet mit Gieri (Cathomas), einem vermeintlichen Knuddelbären, der freilich nicht nur Steinböcke, sondern auch Schürzen
jagt. So vergnügt er sich, während er Mona sträflich vernachlässigt, regelmässig im Wald mit der Yoga-Lehrerin Giulia (Zindel), die eigentlich mit Urs (herrlich linkisch: Marti) verheiratet ist,
der sich mittlerweile aber nur noch fürs Marathontraining interessiert. Diese diversen Arrangements und überhaupt das beschauliche Dorfleben geraten endlich durcheinander, als ein indischer
Pfarrer (Murali Perumal) in Sagogn seinen Dienst antritt. Zumal dieser den Glauben weniger traditionell und seinen Seelsorgeauftrag weiter gefasst interpretiert und im Zuge dessen auch praktische
Lebenstipps insbesondere an die weibliche Dorfbevölkerung verteilt. Weil die sich daraus ergebenden Verwerfungen zuvorderst sexueller Natur sind, haftet «Amur senza fin» durchaus eine gewisse Frivolität an
– nicht übermässig frech zwar, für Fernsehverhältnisse bisweilen aber einigermassen subversiv. Schaub inszeniert das gewohnt kompetent und mit cineastischer Ambition. Das Tempo ist flott, der
Charme bündnerisch unwiderstehlich. Und die Figuren sind kauzig, aber keine Karikaturen. Und so können sie denn auch gebührend brillieren, diese wunderbaren einheimischen Stars: Cathomas! Zindel!
Marti! Und Rebecca Indermaur natürlich!
Dem Regiedebüt von Oscar-Preisträger Paolo Sorrentino aus dem Jahr 2001 ist das doch recht knapp bemessene Budget bisweilen zwar durchaus anzusehen. Es macht das aber durch eine ausgeklügelte
Erzählstruktur, feine Charakterzeichnungen und zwei herausragende Hauptdarsteller mehr als wett. «Nella vita non esiste il pareggio» – «im Leben gibt es kein Unentschieden», ist der in Napoli um
1980 angesiedelten Tragikomödie als Motto überschrieben, und die Analogie zum Fussball kommt nicht von ungefähr. So ist einer der beiden Protagonisten, deren Schicksal parallel und weitgehend
unabhängig voneinander geschildert wird, der Fussballer Antonio Pisapia (Andrea Renzi): ein verschlossener, gutgläubiger und schwermütiger junger Mann, dessen Aktivkarriere im Zenit durch einen
Trainingsunfall jäh beendet wird. Das pure Gegenteil von Antonio ist sein etwa zehn Jahre älterer Namensvetter Tony Pisapia (Toni Servillo), ein zynischer und egozentrischer Schnulzensänger, dem
seine Vorliebe für allzu junge Groupies zum Verhängnis und endlich zum Karrierekiller wird.
Wie zwei, denen die Welt eben noch zu Füssen gelegen hat, mit der plötzlich tristen Realität zurande kommen müssen, das erzählt Sorrentino in «L’uomo in più» mit der genau richtigen Mischung aus
Ernsthaftigkeit und Ironie und bereits auch mit einer Prise jenes magischen Realismus, den seine späteren Werke wie «La grande bellezza» oder «Youth» auszeichnet. Für Toni Servillo bedeutete
seine explosive Darstellung des zugekoksten und zunehmend ins Taumeln geratenden Widerlings Tony der Durchbruch und den eigentlichen Startschuss zu einer ruhmreichen Karriere, in deren Verlauf er
schon Giulio Andreotti, Michail Gorbatschow oder Silvio Berlusconi formvollendet verkörpert hat. Für Andrea Renzi hingegen, dessen Figur inspiriert ist vom traurigen, 1994 in den Freitod
gegangenen Ex-AS-Roma-Captain Ago Di Bartolomei, waren die Höhepunkte nach dieser überaus einnehmenden Performance ungleich rarer gesät. Aber das passt ja irgendwie wieder zu ihren Figuren, die
ein ähnliches Schicksal erdulden mögen, deren Strategien zu dessen Bewältigung aber so unterschiedlich sind wie die Herangehensweisen dieser beiden wunderbaren Schauspieler.
Es klingt auf dem Papier gelinde gesagt einigermassen uncineastisch, was sich der 28-jährige indischstämmige US-Regisseur Aneesh Chaganty für sein Spielfilmdebüt «Searching» als Konzept ausgedacht hat: die komplette Handlung über Computer- und Smartphone-Bildschirme ablaufen zu lassen. Doch o Wunder: Das klappt in «Searching» ganz wunderbar, und es kommt ziemlich grandios, wenn sich der junge Witwer David Kim (John Cho) aus dem kalifornischen San Jose via Facebook, Tumblr, Twitter etc. auf die Suche nach seiner verschwundenen 16-jährigen Tochter (Michelle La) macht. Und eine einträgliche Sache war dieser erste Mainstream-Thriller aus Hollywood mit einem asiatischstämmigen Amerikaner in der Hauptrolle grad auch noch: Bei einem Budget von 880‘000 Dollar spielte er weltweit rund 75 Millionen Dollar ein, also annähernd das Hundertfache.
Chaganty, der auch das Skript mitverfasste, erweist sich hier als meisterhafter Geschichtenerzähler, der einen in null Komma nichts in die Story hineinzieht und es über all dem Klicken, Scrollen,
Swipen nicht vergisst, den Figuren – man verzeihe den Kalauer – ein Profil zu geben. Trotz der irren Prämisse wirkt der Film dabei vollkommen stringent, von verkopfter Konzepttreue keine Spur;
vielmehr ist das ein fast mühelos scheinendes und doch so vielsagendes Abtauchen in die digitale Realität heutiger Teenager, wobei sich der Film einen Kommentar dazu tunlichst verkneift. Er ist
nämlich viel zu sehr beschäftigt damit, dem sympathischen Herrn Kim zu zeigen, wer seine Tochter eigentlich ist: nicht die strebesame Studentin, die den Tod ihrer Mutter tapfer verarbeitet hat;
sondern ein Teenager in Not, der sich von seinen Freuden entfremdet hat und offenbar ein Leben voller Geheimnisse führt. Und das ist dann ja, bei aller formalen Innovation, wieder ganz und gar
klassisch.
Für einen fast 70-jährigen Western hat diese starbesetzte Genreperle in Technicolor von Anthony Mann («El Cid») eine recht erstaunliche psychologische Tiefe. Und sie markiert eine Art Wendepunkt
in der Karriere von Hauptdarsteller James Stewart: den Übergang vom frohgemuten uramerikanischen «Good Guy» zu komplexeren und konfliktbeladenen Charakteren. Stewart spielt hier den Kopfgeldjäger
Howard Kemp, dem das Leben und vor allem eine Frau während des Bürgerkriegs übel mitgespielt haben. Nun trachtet er danach, das erlittene Leid auszulöschen: mit der Erfassung – «dead or alive» –
des Mörders Ben Vandergroat (Robert Ryan) in den Bergen von Colorado und der dafür ausgesetzten Belohnung, die ihm einen Neustart ermöglichen soll. Um des dauergrinsenden Halunken habhaft zu
werden und ihn sodann nach Kansas zu schaffen, muss er aber die Hilfe zweier zwielichtiger Figuren in Anspruch nehmen: des glücklosen Goldgräbers Jesse Tate (Millard Mitchell) und des
desertierten Soldaten Roy Anderson (Ralph Meeker).
Die Schicksalsgemeinschaft, die sich nach der baldigen Ergreifung von Ben ergibt, erinnert frappant an jene, die sich in der zweiten Hälfte von John Hustons Meisterwerk «The Treasure of the
Sierra Madre» auf den Weg bergabwärts zurück in die Zivilisation macht. Und sie sieht sich mit ähnlichen Unbilden konfrontiert: feindseligen Indianern, brüchigen Vertrauensverhältnissen und dem
klassischen Western-Topos der Gier, die den wahren Charakter der Figuren offenlegt. Es ist da aber auch eine Frau, die das Interesse der Streithähne weckt und die Konkurrenz unter den Alphatieren
schürt: die junge Lina (Janet Leigh), die Ben auf seiner Flucht aus durchaus unlauteren Motiven in Schlepptau genommen hatte. Anders als sie, die hübsches Beiwerk bleibt, macht gerade James
Stewarts Figur im Laufe der gut anderthalb Stunden Spielzeit bis zum imposanten und gleichsam ikonischen Finale eine stattliche Entwicklung durch und offenbart dabei eine Vielzahl von Facetten,
die seinem Darsteller eine der besten Leistungen seiner ruhmreichen Karriere abverlangen. Mit Anthony Mann wurde er dabei von einem Regisseur angeleitet, zu dem er damals schon ein gewisses
Zutrauen gehabt haben dürfte: «The Naked
Spur» markierte schon ihre dritte Zusammenarbeit; fünf weitere sollten noch folgen. 1997 wurde dieser grossartige Western für «kulturell, historisch und ästhetisch signifikant» befunden und
ins National Film Registry aufgenommen.
Thanksgiving ist zwar schon vorbei. Doch diese Achtzigerjahre-Komödie des vor zehn Jahren viel zu früh verstorbenen Genrekönigs John Hughes («The Breakfast Club», «Ferris Bueller’s Day Off»)
passt zu jedem Festtag und insbesondere auch zu Weihnachten. Denn in «Planes, Trains & Automobiles» (1987) werden nicht nur Turbulenzen aller verkehrstechnischen Art zelebriert und mannigfache
Missgeschicke in traditioneller und formvollendeter Reinkultur ausgekostet; es ist am Ende auch eine herzerwärmende Story, in die Hughes den peniblen Werbefachmann Neal Page (Steve Martin) und
den chaotischen Duschvorhangringe-Vertreter Del Griffith (der bereits vor 25 Jahren ebenfalls viel zu früh verstorbene John Candy) da verwickelt.
Die Geschichte von «Ein Ticket für Zwei», wie der Film im deutschsprachigen Raum heisst, ist eine klassische Pleiten-Pech-und-Pannen-Odyssee. Neal hat seiner Familie versprochen, er komme zu
Thanksgiving heim nach Chicago. Doch nur schon ein Taxi zu bekommen in Manhattan, erweist sich als Herkulesaufgabe – und schon da läuft ihm ein erstes Mal Del über den Weg, der personifizierte
Albtraum eines jeden reinlichkeits- und ordnungsliebenden Zeitgenossen und ein Mensch, der das Desaster wie ein Magnet anzieht. Diesen Del wird Neal nun nicht mehr los. Nachdem der Flieger wegen
eines Schneesturms in Kansas hat landen müssen, gründen die beiden aus der Not heraus eine Schicksalsfahrgemeinschaft – Neal überaus widerwillig, Del hingegen in durchaus freudiger Erwartung. Was
folgt, sind… nun ja… Desaster eben. Und wider Erwarten eine gewisse Annäherung der beiden ungleichen Gefährten, die schliesslich in einem geradezu besinnlichen Finale mündet, das all die
boshaften Widrigkeiten, denen Hughes seine Helden zuvor ausgesetzt hat, mit generöser Menschlichkeit vergeltet.
Gerade in diesen turbulenten Impeachment-Tagen ist die Monster-Doku von Oscar-Preisträger Charles Ferguson über den Krimi, der Präsident Richard Nixon zu Fall brachte, natürlich von ganz
besonderer Relevanz. Und dass Ferguson, der in «No End in Sight» (2007) den Irak-Krieg und in «Inside Job» (2010) die Finanzkrise auf so kluge wie unaufgeregte und also gar nicht
Michael-Moore-mässige Weise durchleuchtete, die Parallele zur Gegenwart sucht, macht er denn auch bereits im Untertitel klar: «How We Learned to Stop an Out of Control President». Den Namen des
jetzigen Amtsinhabers nimmt hier freilich niemand in den Mund. Stattdessen wird, gestützt auf 3400 Stunden Tonaufnahmen, Stapeln von inzwischen freigegebenen Geheimpapieren und tonnenweise
Archivaufnahmen, in allergrösster Faktentreue und -vielfalt dieser wohl bestdokumentierte politische Skandal der Geschichte nochmals vor uns ausgebreitet – bis dass uns die Kinnlade runterfällt.
Damit uns ob all der Namen und Daten, die da in milchigen Siebziger-Fernsehaufnahmen entwirrt und aufgedröselt werden, nicht bald auch schon die Augen zufallen, hat sich Ferguson einen recht
gewagten Trick ausgedacht: die Nachstellung kritischer Abschnitte in den geheimen Tonaufnahmen aus dem Oval Office mittels echter Schauspieler. Das hat dann zwar durchaus den gewünschten
auflockernden Effekt; weil die Darsteller aber derart wenig Ähnlichkeit mit den echten Protagonisten aufweisen und insbesondere Nixon-Darsteller Douglas Hodge viel zu dick aufträgt, erweist sich
das auch als Achillesferse des Films. Für den geneigten Watergate-Enthusiasten hält dieser zwar keinerlei neue Erkenntnisse bereit; dafür darf er den Anspruch auf definitive Vollständigkeit
erheben – auch weil er alle zur Verfügung stehenden relevanten Zeitzeugen aufbietet und diese ihre Sicht der Dinge rekapitulieren lässt. Und eben: Da sind diese Gemeinsamkeiten mit der Gegenwart.
Wobei es bisweilen fast interessanter ist, sich der Unterschiede zu heute gewahr zu werden: etwa dass sich die Leute damals noch von Fakten überzeugen liessen; oder der Seriosität, mit der die
Presse zu Werke gehen durfte; der Loyalität der Politiker, die letztlich ihrem Land und nicht ihrer Partei galt; oder der aus heutiger Sicht verblüffenden Tatsache, dass die
Watergate-Untersuchungen die Öffentlichkeit lange Zeit eher kaltliessen, da Nixon halt auch ein sehr erfolgreicher Politiker war, der bei seiner Wiederwahl in 49 von 50 Bundesstaaten triumphiert
hatte und der durchaus auch von edlen Motiven (Weltfrieden! Nukleare Abrüstung!) geleitet war. Dass der Film Letzteres leichthin mit politischem Kalkül abtut, ist nicht nur arg populistisch,
sondern – falls ernst gemeint – auch reichlich naiv und zeugt von diesem irrationalen Verlangen nach totaler Verteufelung, an dem so viele Abhandlungen über diesen zutiefst makelbehafteten, aber
facettenreichen Mann und Politiker kranken, der auf ewig ein Mysterium bleiben wird.
Diese wenigen Schwächen seien «Watergate»
aber nachgesehen, zumal Ferguson ansonsten wohltuend nüchtern bleibt und darüber hinaus auch noch einen hervorragenden Job macht, die Geschehnisse politisch und zeitgeschichtlich akkurat
einzubetten. Und wenn er in den letzten der 260 erschöpfenden, zermürbenden und dabei so erhellenden Minuten seines Films Nixons durchaus rührende Abschiedsrede würdigt, schimmert gar etwas
Mitleid mit dem unerbittlichen, nun aber endgültig geschlagenen Kämpfer durch: diesem brillanten, aber paranoiden politischen Geist, der nach heutigen Standards gleichzeitig konservativ und
liberal war und am Ende doch von beiden Seiten gehasst wurde und vielerorts noch immer wird; diesem wandelnden Widerspruch, der alle privaten und politischen Widrigkeiten überwand und doch nie
seine inneren Dämonen zum Verstummen bringen konnte. Doch Mitleid, so viel ist klar, wäre das Letzte, was Richard Nixon gewollt hätte. Und so kennt dieser harte, aber grösstenteils faire
Film letztlich dann doch kein Pardon mit dem «Crook», der «Tricky Dick» letzten Endes eben doch (auch) war. Eine Frage nur bleibt er dann doch schuldig: wie man denn einen Präsidenten stoppt, der
sich nie je unter Kontrolle hatte.
Diese mehrfach preisgekrönte Literaturverfilmung aus dem Jahr 2013 hat alles, wirklich alles, was das zarte Cineasten-Herz begehrt: Sie ist warmherzig und hellsichtig, kurzweilig und tiefgründig,
humorvoll und ernsthaft in ihrer Betrachtung der typischen Sorgen und Nöte zweier Teenager, die unterschiedlicher nicht sein könnten; sie ist eine in wunderschönen Sommerfarben fotografierte
Schilderung des Arbeiterklasse-Lebens in einer mittlergrossen Stadt im südöstlichen US-Bundessaat Georgia; und sie hat eine Besetzung zum Niederknien voller talentierter Nachwuchskräfte (Miles
Teller, Shailene Woodley, Brie Larson) und versierter Charakterköpfe (Kyle Chandler, Bob Odenkrik, Jennifer Jason Leigh).
In knappen anderthalb Stunden erzählt Regisseur James Ponsoldt («The Circle») in «The Spectacular Now» die Coming-of-Age-Geschichte von Sutter (Teller) und Aimee (Woodley). Sutter ist ein Hallodri reinsten
Wassers: allseits beliebt und ungemein charmant, aber nicht eben von der zuverlässigen Sorte. Das pure Gegenteil davon ist die schüchterne und streberhafte Aimee, die den feschen Spitzbuben eines
Morgens beim Zeitungaustragen noch halb trunken in einem fremden Garten findet. Zwischen den beiden Sympathieträgern entspinnt sich in der Folge eine fein und zärtlich gezeichnete Beziehung, der
man alles Glück der Welt wünscht, die aber auf wackligem Fundament steht. In seiner Angst vor dem Erwachsenwerden blendet Miles alles aus, was nach der Highschool kommen könnte, verweigert sich
«dem Ernst des Lebens» und entwickelt Trinkgewohnheiten, die ihn immer wieder in Schwierigkeiten und gefährlich nahe an die Grenze zur Sucht führen. Aimee hingegen hat einen klaren Plan und schon
eine Zusage von einem College in Philadelphia. Aus dieser durchaus klassischen Konstellation zaubert Ponsoldt einen Film von einer gewissen Einzigartigkeit auf die Leinwand. Was diesen von vielen
seiner Genregenossen abhebt, ist, dass er das Drama von Sutter und Aimee mit einer Ernsthaftigkeit behandelt, die mit deren Empfindungen in Einklang steht und dem delikaten Thema gerecht wird:
diesem schwierigen Übergang vom endgültigen Abschiednehmen von der Kindheit zum angst- und hoffnungserfüllten Aufbrechen in die grosse fremde Welt. Dass der Film dies aus einer frischen
Perspektive und ohne Predigen von filmisch tradierten Wertvorstellungen tut, ist ihm umso höher anzurechnen; und dass er dabei nicht gänzlich mit den Genrekonventionen bricht, ist weder störend
noch wertmindernd. Es passt perfekt zu einem Film, der dem Unperfekten huldigt. Auf unbekümmerte, liebevolle und auch – dank der grandiosen Hauptdarsteller – geradezu spektakulär einfühlsame
Weise.
In der ganzen berechtigten Euphorie über das nun schon zwei Jahrzehnte währende güldene TV-Serien-Zeitalter ist er ganz in Vergessenheit geraten, weil zumindest in den USA in der televisionären
Versenkung verschwunden: der gute alte Fernsehfilm. Seine Blütezeit erlebte er in den Sechziger- und Siebzigerjahren mit Formaten wie dem «ABC Movie of the Week», in dessen Rahmen etwa der
25-jährige Steven Spielberg mit dem Highway-Thriller «Duel» sein Debüt als Regisseur gab. Wie das Krimi-Schmuckstück «Blackout» (1985) zeigt, war sein Ruf aber auch in den Achtzigerjahren noch absolut intakt. Darauf deutet zumindest die
geradezu spektakuläre Besetzung des 90-minütigen Films hin: Keith Carradine («Nashville»), Richard Widmark («Kiss of Death») und Kathleen Quinlan («Breakdown») geben sich hier die Ehre; Regie
führte Douglas Hickox («Theater of Blood»), und fotografiert wurde der Film von Starkameramann Tak Fujimoto («Badlands», «The Sixth Sense»).
Aussergewöhnlich für einen Fernsehfilm ist auch, wie schauerlich die Geschichte von «Blackout» ist: Ein unbescholtener Vorortsbürger aus Ohio erschlägt am fünften Geburtstags seines Jüngsten
seine Frau und seine drei Kinder mit einem Baseballschläger und positioniert die Opfer wie die Figuren eines Gruselkabinetts auf dem Sofa vor dem laufenden Fernseher. Für Polizeiinspektor Steiner
(Widmark), ein Whiskey liebendes Raubein mit ausgeprägtem Gerechtigkeitssinn, wird das Aufklären dieses Gräuelverbrechens zur Lebensaufgabe, an der er freilich zu scheitern droht. Erst sechs
Jahre später, mittlerweile im Zwangsruhestand, stösst er auf eine vielversprechende Spur, die ihn in die Nähe von Seattle führt: Beim sympathischen Immobilienmakler Allen Devlin (Carradine) kommt
nicht nur das Optische einigermassen hin; er hat sich auch ein Leben aufgebaut, das quasi identisch ist mit jenem des Vierfachmörders von damals. Der Clou an der Sache und an dem Film ist, dass
Devlin es selbst nicht ausschliessen kann, dass er vor Jahren zur Bestie geworden ist: Kurz nach der Tat war er in einen Unfall verwickelt, der ihn komplett entstellt und all seiner Erinnerungen
beraubt hat. Indes könnte er auch Opfer einer Intrige des örtlichen Polizeichefs (Michael Beck) sein, dem er nach seiner Genesung einst die Freundin (Quinlan) ausgespannt hatte. Es ist ein
verzwicktes Rätsel, für dessen Lösen Regisseur Hickox nicht exklusiv auf das clevere, wenn auch nicht übermässig glaubwürdige Skript vertrauen mag; vielmehr erweist er sich auch als ein
veritabler Master, wenn es darum geht, Spannung und Stimmung aufzubauen. Schon in der Eröffnungsszene, wenn die Nachbarin den grauslichen Fund macht, lässt er sich massig Zeit und steigert so
gleichsam sadistisch Sekunde um Sekunde die Suspense. Und in diesem Takt geht es dann oben im herbstlichen und gerne nächtlichen pazifischen Nordwesten nahtlos weiter. Das strapaziert gehörig die
Nerven, spannt sie zum Zerreissen und zerfetzt sie endlich in einem Finale, das vielleicht mutiger und raffinierter sein könnte, aber auch so passt – und nichts daran ändert, dass man dieses
Schocker einfach nicht mehr aus dem Kopf kriegt. Ach, der gute alte Fernsehfilm!
Diese Sitcom, die Michael J. Fox zum Star machte, lief bei uns gleich unter drei verschiedenen Namen: im ZDF als «Hilfe, wir werden erwachsen», auf ProSieben als «Jede Menge Familie» und bei RTL
schliesslich originalgetreu als «Familienbande». In sieben Staffeln (1982–1989) und 180 Episoden berichtet sie vom gar nicht mal so spektakulären Alltag der Familie Keaton aus Columbus, Ohio.
Nebst den vielen kleineren und seltenen grösseren Dramen, die es mit trockenem Humor und treffsicherer Schlagfertigkeit durchzustehen gilt, dient hier ein spezieller Generationenkonflikt als
Leitmotiv: Die Eltern – Architektin Elyse (Meredith Baxter-Birney) und Fernsehjournalist Steven (Michael Gross) – sind Althippies, die eine ganze Menge vom 68er-Geist in die gefühlskalten
80er-Jahre hinüberretten konnten. Ihre drei Sprösslinge jedoch sind ganz Kinder ihrer Zeit: Da ist die altkluge Jennifer (Tina Yothers), die über all die Jahre nicht viel Interessantes zu tun
bekommt; dann die oberflächliche Mallory (Justine Bateman, die Schwester von Jason Bateman), die sich praktisch exklusiv für Jungs und Klamotten interessiert; und schliesslich und vor allem ist
da Alex (Michael J. Fox): ein glühender Anhänger Ronald Reagans und von dessen neokonservativer und raubtierkapitalistischer Politik, der schon als Teenager stets beanzugt und beschlipst
rumstolziert und dessen Bibel das «Wall Street Journal» ist. Die Wortgefechte, die sich zwischen ihm und seinen Eltern entspinnen, sind denn auch der Kern und die Höhepunkte der Serie: zum
Brüllen komisch, zum Brüten klug.
«Family Ties» ist ein
wunderbares und leicht bekömmliches Beispiel dafür, dass Comedy mit einem gewissen Tiefgang nicht zwingend ins Rührselige und Moralinsaure abrutschen muss. Ein Minimum, ein wirklich minimalstes
Minimum an historischem Bewusstsein und politischem Interesse vorausgesetzt, funktioniert das launige Geplänkel der Keatons ungeachtet des gewiss nicht kleinen Nostalgiebonus auch drei Jahrzehnte
später noch überraschend gut, ja hervorragend gar. Und obendrein kann man sich hier, wie stets beim Anschauen alter Serien, einen leicht prickelnden Spass daraus machen, Stars von heute in
Gastauftritten aufzuspüren. In «Family Ties» trifft man so etwa auf Tom Hanks als Onkel mit unstetem Lebenswandel, River Phoenix als halbwüchsiges Mathegenie oder den siebenjährigen Joseph
Gordon-Levitt. Übrigens: Die Bewunderung, die Alex für Ronald Reagan hegte, beruhte dem Vernehmen nach ganz auf Gegenseitigkeit. Das Wahlkampfteam des «Gipper» soll Michael J. Fox gar eine Stelle
als Redner angeboten haben. Fox freilich lehnte mit dem Verweis ab, er sei Kanadier und politisch nicht wirklich auf einer Wellenlänge mit Reagan und Alex Keaton.
In diesem Drama geht es um Dinge, die zu Ende gehen. Um das Loslassen einer lebenslangen Leidenschaft. Um das Überwinden archaischer Vorstellungen von maskuliner Identität. Und um das
Abschiednehmen von einer quintessenziellen amerikanischen Lebenswirklichkeit. Was die chinesischstämmige US-Regisseurin Chloé Zhao in ihrem zweiten Spielfilm erzählt, ist überdies nicht nur wahr,
sondern nachgerade wahrhaftig. Es ist die Geschichte des jungen Rodeo-Shootingstars Brady, gespielt von Brady Jandreau, der ebenso wie sein trunk- und spielsüchtiger Vater Wayne, seine
autistische Schwester Lilly und die meisten anderen Figuren in «The Rider» (2017) zumindest eine Variation seiner selbst verkörpert. Nach einer schweren Kopfverletzung ist Brady vor die
Wahl gestellt, seinen Lebenstraum weiterzuverfolgen – mit unabsehbaren Konsequenzen für seine Gesundheit. Oder sich umzuorientieren und vielleicht einen anderen Weg zu finden, um mit sich selbst
und der Welt im Reinen zu bleiben. So oder so ist es an ihm, die karge Existenz seiner Familie zu sichern, die in einem Trailer in einem Indianerreservat in South Dakota haust. Mit dieser
Verantwortung umzugehen und seine eigenen Wünsche hintenanzustellen, hat Brady freilich schon früh gelernt.
Das Milieu, in dem «The Rider» angesiedelt ist, hat schon manchen Filmemacher zu einem gewissen dünkelbeseelten Voyeurismus verleitet. Wenn Zhao hingegen die prekären Lebensumstände dieser oft
als «White Trash» verunglimpften einfachen Leute schildert, ist weder das eine noch das andere da: weder diese perfid-überlegene Lust am Blossstellen noch dieses pervers-wohlige Suhlen im eigenen
Entsetzen. Stattdessen sind hier jederzeit echte Anteilnahme und aufrichtiges Interesse zu spüren. Und quasi zum Kontrast lässt Zhao immer wieder gleichsam poetische Bilder sprechen, die einen
erst gar nicht spekulieren lassen, ob es sich bei «The Rider» letztlich und recht eigentlich nicht doch um eine verhüllte Doku handle. Es ist dies vielmehr ein sehr ruhig und sehr langsam
erzählter, ein fast meditativer Film, der einen dazu einlädt, die Gedanken schweifen zu lassen: entweder in die Tiefe oder aber in die Weite. Und das gerade ist (auch) das Schöne an «The Rider»:
Wer nicht an den philosophischen Fragen knabbern möchte, kann sich auch einfach zurücklehnen, die mächtige Landschaft aufsaugen und sich von der prächtigen Musik von Nathan Halpern umschmeicheln
lassen. Ein unvergleichliches und lange nachhallendes Erlebnis ist dieser Film auch dann.
Diese fünfteilige HBO-Serie über die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl am 26. April 1986 evoziert lähmendes Entsetzen und hat eine geradezu gespenstische Wirkung. Grösstenteils besetzt mit
britischen Schauspielern und weder dem gemeinen Schockeffekt noch der pathosgetränkten Rede abgeneigt, vermag sie zwar trocken-puristische Zeitgenossen, denen mehr an der wissenschaftlichen und
historischen Akkuratesse gelegen ist, nicht restlos zufriedenzustellen; als nichtsdestotrotz vielschichtiges Drama mit einer bisweilen durchaus pingeligen Detailversessenheit vermittelt die
Miniserie von Drehbuchautor Craig Mazin («The Hangover Part II & III»!) und Regisseur Johan Renck («Bloodline») aber eine recht konkrete Ahnung vom namenlosen Schrecken dieser
Beinahe-Apokalypse und bringt mit erschütternden Paukenschlägen verscheucht geglaubte Geister zurück.
Im Zentrum des grauslichen Geschehens stehen der Wissenschaftler Waleri Legassow (Jared Harris) und der Politiker Boris Schtscherbina (Stellan Skarsgård). Ihnen liegt es ob, eine angemessene
Reaktion auf das Unglück und Lösungen zu finden für ein Problem von nie da gewesenem und kaum abschätzbarem Ausmass. Dabei kämpfen sie nicht nur mit dem technisch, sondern nicht zuletzt auch mit
dem politisch Machbaren. Die betonharten Apparatschiks, die sich ihnen immer wieder breitbeinig in den Weg stellen, mögen nicht übermässig lebensnah gezeichnet sein; als bare Funktionsträger
erfüllen sie aber ihren Zweck, die mannigfachen systemischen Fehler des sowjetischen Konstrukts zu entlarven. In ihrem felsenfesten Vertrauen in die eigene überlegene Grossartigkeit wollen sie
das kollektive Versagen nicht nur nicht glauben – sie können es schlicht nicht. Was sich daraus entspinnt, ist schliesslich ein Ringen zwischen Politik und Wissenschaft, zwischen Fake und Fakten,
das auch für manches aktuelle Geschehen eine gewisse Gültigkeit beanspruchen kann. Insofern ist «Chernobyl», die derzeit bestbewertete Serie auf IMDb, auch ein Mahnmal: Der Preis solch monumentaler Lügen ist horrend, und
bezahlt wird der Zoll am Ende in Blut.
Larry (Steve Carell), Sal (Bryan Cranston) und Richard (Lawrence Fishburne) haben zusammen in Vietnam gedient. Und nicht nur das: Sie haben dort auch ziemlichen Mist gebaut, was zum Tod eines
Kameraden, zu unehrenhaften Entlassungen und berechtigten Schuldgefühlen bis zum heutigen Tag geführt hat. Kein Wunder also, suchten die drei das Vergessen, statt den Kontakt aufrechtzuerhalten.
Nun aber, 30 Jahre später im Jahr 2003, steht der stille Larry in Norfolk, Virginia, in der schäbigen Bar des ebenfalls recht heruntergekommenen Sal und schlägt vor, doch auch dem vom Hallodri
zum Pfarrer metamorphosierten Richard einen Besuch abzustatten. Nur um das Auffrischen von Erinnerungen geht es Larry indes nicht, wie sich weisen wird. Vielmehr erhofft er sich von seinen
einstigen Freunden Beistand in seiner dunkelsten Stunde: Sie sollen ihn zur Beerdigung seines im Irak gefallenen Sohnes auf dem Militär-Friedhof Arlington begleiten.
Es kommt dann freilich alles ein bisschen anders in Richard Linklaters Tragikomödie «Last Flag Flying» (2017), der inoffiziellen Fortsetzung des Hal-Ashby-Klassikers «The Last Detail» (1973). Was wir mit
Larry, Sal und Richard nun erleben, ist ein pleiten-, pech- und pannengesäumtes Buddy- und Roadmovie mit Leichnam, das die drei von Washington über New York und Boston nach New Hampshire führt.
Es ist nicht schwer, sich vorzustellen, was daraus in weniger versierten Händen als jenen des «Boyhood»-Regisseurs hätte werden können: ein tonal und geschmacklich herausgeforderter Oldie-Klamauk
vielleicht. Oder aber ein trübsalgetränktes Pathosstück. Nichts dergleichen ist «Last Flag Flying». Stattdessen zeigt Linklater einmal mehr, worin er sich von den meisten seiner
Hollywood-Kollegen abhebt: seiner Fähigkeit, Menschen zu verstehen, ihre Sorgen ernst zu nehmen – und so Figuren zu kreieren, deren Schicksal einen nie kaltlässt. Dass Carell, Cranston und
Fishburne sich auch noch in absoluter Hochform präsentieren, wenn sie über Krieg und Schuld, Familie und Trauer, Patriotismus und Freundschaft debattieren, ist dabei natürlich auch durchaus
hilfreich.
Ein Rätsel ist es, dass diese von Kritikern und Publikum gleichermassen hochgeschätzte Serie ausserhalb der USA so wenig Resonanz findet. Die von «Crazy. Stupid. Love»-Autor Dan Fogelman kreierte
Tragikomödie, 2016 auf NBC lanciert, erfreut sich auf ihrem Heimmarkt jedenfalls auch in ihrem vierten Jahr ungebrochener Beliebtheit. Mit einem feinen Sinn für grosse Emotionen wird hier
die Geschichte der Familie Pearson erzählt – auf verschiedenen clever verwobenen Zeitebenen: So folgen wir nicht nur im Hier und Jetzt zwischen L.A., New York und New Jersey gebannt den Dramen
des flatterhaften Schauspielerschönlings Kevin (Justin Hartley), der fettleibigen Amateursängerin Kate (Chrissy Metz) und des adoptierten dunkelhäutigen Nerds Randall (Sterling K. Brown);
geradeso gern schauen wir zurück in die Kindheit und Teenagerzeit der drei so ungleichen, aber wie Pech und Schwefel zusammenhaltenden Geschwister, die alle am selben Tag in Pittsburgh zur Welt
kamen, und lernen so auch ihre aussergewöhnlichen und sie bis heute so sehr prägenden Eltern (Mandy Moore und Milo Ventimiglia) immer besser kennen. Und bisweilen erhaschen wir sogar einen
flüchtigen Blick in die Zukunft.
Man könnte «This Is Us» als
die «definitive» Familienserie bezeichnet: Was hier auf den Tisch und zur Sprache kommt, wird in der einen oder anderen Form nicht nur in jedem amerikanischen Zuhause gelebt und zelebriert, aus-
und durchgestanden. Entsprechend hoch ist das Identifikationspotenzial. Was diese eher traditionell und nicht übermässig «fancy» daherkommende Serie ausserdem meilenweit von der Masse abhebt,
sind die gewitzten Dialoge, die liebenswerten Figuren mitsamt ihren erfrischenden Darstellern und eine exquisite Auswahl an wohlplatzierten Folksongs; vor allem aber ist es das sagenhaft
zuverlässige Gespür, im richtigen Moment das Richtige auf die richtige Art zu sagen. Wo andere Dramen im Kitsch versinken, bleibt Fogelmans Serie lebensnah; wo andere sich in Albernheit flüchten,
erhält sie sich ihren smarten Schalk; wo andere sich in Klischees suhlen, verharrt sie in Wahrhaftigkeit; und wo andere in Trübsal ersaufen, findet sie das Licht. Denn bei allen Tränen und
Tragödien: «This Is Us» ist im Kern eine lebensbejahende, herzerweichende, sonnendurchflutete Angelegenheit – ein kleines, ach was, ein grosses Wunder!
Die englischen Skandale sind einfach die besten. Nicht nur wegen ihres Hangs, in bizarre Pikanterie abzudriften. Sondern auch, weil sie gerne absolut filmreif sind. Insofern ist die
Anthologie-Serie «A Very English
Scandal» mithin von geradezu schlagender Sinnfälligkeit. Stoff sollte ja genügend vorhanden sein; und wenn die nächsten Geschichten, die hier im Stil von «American Crime Story» mit jeweils
komplett ausgewechseltem Personal aufgerollt werden sollen, nur annähernd die Qualität des Auftakts haben, dürfte das überaus heiter werden.
Im ersten Teil, ausgestrahlt im Frühling 2018, wird der geradezu unfassbare Skandal um Jeremy Thorpe seziert, der Mitte der Siebzigerjahre als Vorsitzender der aufstrebenden Liberalen Partei zu
den einflussreichsten Politikern im Königreich avancierte. In Erinnerung geblieben ist Thorpe freilich nicht deshalb – sondern weil er versucht haben soll, einen gewissen Norman Josiffe umbringen
zu lassen, um diesen daran zu hindern, über eine frühere geheime homosexuelle Affäre zu plaudern. Die von Starregisseur Stephen Frears («The Queen») inszenierte nur dreiteilige erste Staffel von
«A Very English Scandal» wiederum wird weniger wegen ihrer aberwitzigen Geschichte noch lange im Gedächtnis haften bleiben als vielmehr aufgrund der Karrierebestleistung von Hugh Grant in der
Hauptrolle. Wie er diesem fast buchstäblich über Leichen gehenden Heuchler immer wieder neue Facetten und gar eine gewisse Menschlichkeit abringt, ist schlicht eine Offenbarung – und ein Argument
dafür, dass er öfter mit Frears zusammenarbeiten sollte, der ihn schon in «Florence Foster Jenkins» zu einer Höchstleistung dirigierte. Den Golden Globe indes erhielt dann nicht Grant, sondern
sein – gleichfalls überragender – Co-Star Ben Whishaw («Das Parfum») für seine (Neben)rolle als Norman Josiffe.
Seit über einem Jahrzehnt zählt Kelly Reichardt zu den erstaunlichsten und auch profiliertesten Filmemacherinnen des amerikanischen Independent-Kinos. Mit Filmen wie «Old Joy» (2006), wo sie zwei
alte Freunde (Daniel London und Will Oldham aka Bonnie «Prince» Billy) in den Wäldern von Oregon zu sich selbst und der US-Gesellschaft während der Bush-Jahre vordringen liess, und «Wendy and
Lucy», worin Michelle Williams hauptsächlich ihren Hund sucht, schuf sie sich den Ruf als eine naturverbundene Meisterin des Minimalismus.
Für das Episodendrama «Certain
Women», ihren bis dato letzten Film aus dem Jahr 2016, drehte sie nun nicht nur erstmals ausserhalb Oregons; sie versammelte hierfür auch eine für ihre Verhältnisse recht üppige Besetzung. So
kommen in dem auf drei Kurzgeschichten von Maile Meloy basierenden und in einer Kleinstadt im ruralen Montana angesiedelten Film gleich drei der interessantesten Schauspielerinnen der Gegenwart
zu einem Glanzauftritt: Laura Dern spielt eine Anwältin, die sich seit Monaten mit einem zusehends verzweifelten und aggressiven Klienten herumschlägt; Michelle Williams verkörpert eine Ehefrau
und Mutter, die mit eiserner Entschlossenheit für ihr Traumhaus kämpft; und Kristen Stewart ist im berührendsten Kapitel als Abendschullehrerin zu sehen, die eine ungewöhnliche und nicht
unproblematische Verbindung zu einer ihrer Schülerinnen aufbaut, einer einsamen Ranch-Hilfskraft (Lily Gladstone). Die drei Geschichten überschneiden sich wohl nur an den Rändern; sie bilden
gleichwohl ein überaus stimmungsvolles Ganzes, das in ruhigem Ton und dem Reichardt so eigenen bedächtigen Tempo von alltäglichen Herausforderungen Zeugnis ablegt, mit denen ihre vielschichtigen
und gewiss nicht makellosen Frauenfiguren in dieser Männerwelt konfrontiert sind. Poetisch und wahrhaftig ist das – auch das typisch Reichardt.
Diese seit sieben Jahren laufende britische Krimiserie um Korruption in den obersten Polizeichargen schafft das seltene Kunststück, von Staffel zu Staffel besser zu werden. Im Zentrum der
Handlung stehen die Anti-Korruptions-Abteilung AC-12 einer nicht näher bestimmten britischen Stadt und die Inspektoren Steve Arnott (Martin Compston) und Kate Fleming (Vicky McClure) sowie deren
Chef Ted Hastings (Adrian Dunbar). Die eigentliche Hauptfigur indes wechselt von Staffel zu Staffel – nochmals so eine Besonderheit dieser absolut bemerkenswerten Serie: Nicht nur die Guten und
Aufrechten sind es, die sich hier redlich unsere Aufmerksamkeit verdienen, sondern fast mehr noch jene, die zumindest teilweise vom rechten Pfad abgekommen sind und das Objekt der stets
wendungsreichen Ermittlungen sind. Zu Glanzauftritten kommen so Stars der britischen Fernsehszene wie Keeley Hawes oder Daniel Mays (beide «Ashes to Ashes») sowie Stephen Graham (Al Capone aus
«Boardwalk Empire») und Kinostar Thandie Newton («Crash»).
Am Ende jeder Staffel ist ein Handlungsblock zwar abgeschlossen; der grosse Spannungsbogen von «Line of Duty» ist dann aber jeweils nochmals ein Stück weiter gespannt. Und so harrt die Frage nach dem wirklichen
Strippenzieher in diesem Geflecht aus Polizeikorruption und organisiertem Verbrechen auch nach der im Mai dieses Jahres abgeschlossenen und natürlich abermals brillanten fünften Staffel noch
immer ihrer Beantwortung. Irgendwie fies zwar, aber der Freude auf Staffel 6 durchaus dienlich.
Eine Gruppe von Freunden fährt fürs Wochenende ans Kaspische Meer. Unter ihnen tummelt sich freilich auch eine Unbekannte: die schüchterne Kindergärtnerin Elly, die man mit einem geschiedenen
Freund verkuppeln möchte, der gerade aus Deutschland zu Besuch ist. Es ist dann aber keine amouröse Verstrickung, die nach dem recht üppigen Aufwärmprogramm ihren Lauf nimmt, sondern eine
Katastrophe: Ein Kind verschwindet im Meer; und nachdem es hat gerettet werden können, fehlt jede Spur von Elly, die mit dessen Aufsicht betraut gewesen ist. Während die Gruppe noch rätselt, ob
die mysteriöse Fremde beim Versuch, das Kind zu retten, umgekommen ist oder ohne ein Wort des Abschieds nach Teheran zurückgefahren ist, beginnen die Schuldzuweisungen. Lüge reiht sich an Lüge;
und wie sich weisen wird, ist vieles nicht so, wie es den Anschein gemacht hat.
Mit «About Elly» (2009),
seinem in Berlin prämierten vierten Film, offenbarte der iranische Regisseur Asghar Farhadi erstmals sein ganzes immenses Potenzial. Wie in den beiden Oscar-prämierten Streifen «A Separation» und
«The Salesman» oder auch den internationalen Produktionen «Le passé» und «Everybody Knows» steigert Farhadi die Spannung sachte, aber stetig – bis sie so unerträglich wird wie die Lügen und
Geheimnisse, in die sich die Figuren verstricken und verheddern. Nichts ist schwarz, nichts ist weiss – alles ist grau: ein einziger Nebel, in dem niemand mehr den Durchblick hat. Trotz
unverkennbarer Parallelen zu Michelangelo Antonionis «L’avventura» steckt hier mindestens so viel Hitchcock drin. Sprich: Wie immer bei Farhadi funktioniert der Film sowohl auf der Ebene des
Thrillers als auch als ein, zwei Etagen höher – als philosophisches Parabel mit dezent gesellschaftskritischer Komponente.
19 Jahre hat Daniel Holden (Aden Young) wegen des Mordes an seiner Highschool-Freundin in der Todeszelle gesessen. Nun wird der Mittdreissiger von einer DNA-Analyse entlastet und kommt frei. Als
zutiefst verstörter Mann kehrt Daniel heim in eine Kleinstadt im Bundesstaat Georgia. Der Weg zurück ist steinig: Seine Mutter hat wieder geheiratet und eine neue Familie, die ihm nicht restlos
wohlgesinnt ist. Und der Staatsanwalt ist nach wie vor von Daniels Schuld überzeugt und ermittelt mit dem örtlichen Sheriff weiterhin gegen ihn. Dass sich Daniel selbst an die Ereignisse jener
verhängnisvollen Nacht nicht mehr erinnern kann, verkompliziert die Sache zusätzlich.
«Rectify» (2013–2016) war
eine der erstaunlichsten (und bestbewerteten) Serien der letzten Jahre, die freilich etwas unter dem Radar lief. Über 30 Folgen und 4 Staffeln schildert sie in überaus ruhigem Ton und mit
sicherem Gespür für die Befindlichkeiten in der amerikanischen Provinz die Wiedereingliederung einer verlorenen Seele, die einstweilen wohl frei ist, aber wohl für ewig gebrochen sein wird. Ihre
Kraft und ihre Stärke bezieht die in bittersüsse Schönheit getauchte Serie daraus, dass sie nicht die Konfrontation sucht, sondern nüchtern und in allen erdenklichen Grautönen zu zeigen versucht,
wie solch eine Tragödie und deren Aufarbeitung unbescholtene, gewöhnliche Menschen in einen permanenten Ausnahmezustand der Verwirrung versetzen. Keine der extrem lebensnah dargestellten Figuren
ist beim Versuch, zur Normalität zurückzufinden, frei von Fehlern; doch vielleicht gerade wegen ihrer gelegentlichen Irrtümer und Irrationalitäten hinterlassen sämtliche Figuren einen
vereinnahmenden und jedenfalls bleibenden Eindruck. Elegant inszeniert, intelligent erzählt und clever konstruiert, ist «Rectify» so eine hypnotisch-tiefgründige und zum kontemplativen Sinnieren
einladende Ode an die Menschlichkeit, die ihresgleichen sucht und den geduldigen Zuschauer sehr, sehr reich belohnt.
Seine einzige Oscar-Nominierung als Schauspieler und den ersten seiner beiden Golden Globes erhielt der kürzlich verstorbene Peter Fonda für dieses feine Drama aus dem Jahr 1997. Fonda spielt darin den verwitweten Vietnam-Veteranen Ulysses «Ulee» Jackson, der sich in Florida der Imkerei und seinen beiden halbwüchsigen Enkeltöchtern (Jessica Biel und Vanessa Zima) widmet. Als er einen Anruf seines inhaftierten Sohns (Tom Wood) erhält, setzt sich eine Kriminalhandlung in Gang, die Ulees ehedem ruhiges Leben auf den Kopf stellt und ihn seine Lebensentscheidungen und -einstellungen überdenken lässt.
Regisseur Victor Nunez hat dieses stille und simpel gehaltene Drama um Schuld und Erlösung mit bewegender Warmherzigkeit und generöser Menschlichkeit inszeniert. «Ulee's Gold» steht mit beiden Beinen fest im richtigen Leben und offeriert mindestens zwei überraschende Einsichten: dass ein geduldiger und fähiger Regisseur einem selbst ein Thema wie die Imkerei, die sich jetzt nicht eben als Kinostoff aufdrängt, näherbringen kann. Und dass der ewig coole Peter Fonda auch Rollen spielen konnte, die in die Tiefe gehen.