Für einen fast 70-jährigen Western hat diese starbesetzte Genreperle in Technicolor von Anthony Mann («El Cid») eine recht erstaunliche psychologische Tiefe. Und sie markiert eine Art Wendepunkt
in der Karriere von Hauptdarsteller James Stewart: den Übergang vom frohgemuten uramerikanischen «Good Guy» zu komplexeren und konfliktbeladenen Charakteren. Stewart spielt hier den Kopfgeldjäger
Howard Kemp, dem das Leben und vor allem eine Frau während des Bürgerkriegs übel mitgespielt haben. Nun trachtet er danach, das erlittene Leid auszulöschen: mit der Erfassung – «dead or alive» –
des Mörders Ben Vandergroat (Robert Ryan) in den Bergen von Colorado und der dafür ausgesetzten Belohnung, die ihm einen Neustart ermöglichen soll. Um des dauergrinsenden Halunken habhaft zu
werden und ihn sodann nach Kansas zu schaffen, muss er aber die Hilfe zweier zwielichtiger Figuren in Anspruch nehmen: des glücklosen Goldgräbers Jesse Tate (Millard Mitchell) und des
desertierten Soldaten Roy Anderson (Ralph Meeker).
Die Schicksalsgemeinschaft, die sich nach der baldigen Ergreifung von Ben ergibt, erinnert frappant an jene, die sich in der zweiten Hälfte von John Hustons Meisterwerk «The Treasure of the
Sierra Madre» auf den Weg bergabwärts zurück in die Zivilisation macht. Und sie sieht sich mit ähnlichen Unbilden konfrontiert: feindseligen Indianern, brüchigen Vertrauensverhältnissen und dem
klassischen Western-Topos der Gier, die den wahren Charakter der Figuren offenlegt. Es ist da aber auch eine Frau, die das Interesse der Streithähne weckt und die Konkurrenz unter den Alphatieren
schürt: die junge Lina (Janet Leigh), die Ben auf seiner Flucht aus durchaus unlauteren Motiven in Schlepptau genommen hatte. Anders als sie, die hübsches Beiwerk bleibt, macht gerade James
Stewarts Figur im Laufe der gut anderthalb Stunden Spielzeit bis zum imposanten und gleichsam ikonischen Finale eine stattliche Entwicklung durch und offenbart dabei eine Vielzahl von Facetten,
die seinem Darsteller eine der besten Leistungen seiner ruhmreichen Karriere abverlangen. Mit Anthony Mann wurde er dabei von einem Regisseur angeleitet, zu dem er damals schon ein gewisses
Zutrauen gehabt haben dürfte: «The Naked
Spur» markierte schon ihre dritte Zusammenarbeit; fünf weitere sollten noch folgen. 1997 wurde dieser grossartige Western für «kulturell, historisch und ästhetisch signifikant» befunden und
ins National Film Registry aufgenommen.